Fach­in­ter­view (Aus­ga­be 5)

Titel:Die Gesunde Organisation als Führungsaufgabe

Autoren: Dr. Jens Deerberg-Wittram, Mario A. Pfannstiel

Zitierform des Beitrages: Deerberg-Wittram J., Pfannstiel M. A. (2016) Die Gesunde Organisation als Führungsaufgabe, ZFPG, Jg. 2, Nr. 2, S. 6-9. DOI: 10.17193/HNU.ZFPG.02.02.2016-02


Interview

 

Die Gesprächspartner Mario Pfannstiel und Dr. Jens Deerberg-Wittram (Executive Director der Boston Consulting Group und Senior Fellow am Institut für Strategie und Wettbewerb der Harvard Business School) werden im Folgenden mit MP und JD abgekürzt.

 

MP:Was bedeutet „Gesunde Organisation“?

 

JD: Gesunde Organisation bedeutet, dass idealerweise jeder Mitarbeiter genau die Aufgaben und Rollen verantwortet, die zu ihm passen. Dazu gehört ein gesundes Maß an Forderung, denn nur wer gefordert ist, kann auch Erfolg spüren. Der Grad zwischen Fordern und Überfordern ist manchmal schmal. Überfordert man Mitarbeiter regelmäßig mit Rollenerwartungen und Aufgaben, so reagieren sie mit Frustration, Verweigerung oder Burnout. Unterforderung führt zur Langeweile, zur Lethargie und zur inneren Kündigung. Eine gesunde Organisation erkennt Über- und Unterforderung zeitnah und entwickelt zusammen mit dem Mitarbeiter Lösungen. Gesunde Organisationen haben einen niedrigen Krankenstand, haben eine lange durchschnittliche Betriebszugehörigkeit und sind durch regelmäßige Beförderungen aus den eigenen Reihen gekennzeichnet.

 

MP: Was beinhaltet ein gesundheitsorientierter Führungsstil?

 

JD: Wichtigstes Merkmal ist die realistische Einschätzung der Fähigkeiten und Grenzen der Mitarbeiter sowie der emphatische Umgang mit ihnen. Beides entsteht nur im regelmäßigen Dialog und Austausch. Dieser muss sowohl formale (Mitarbeitergespräch, Feedbacks) als auch informale Begegnungen umfassen. Zum gesundheitsorientierten Führungsstil gehört es auch, das Thema "Gesundheit" aktiv zu thematisieren. Mitarbeiter haben da oft unterschiedliche Vorstellungen, was sie als "gesund" ansehen. Hier soll die Führungskraft auch Coach und Vor-bild sein. Nur eine Führungskraft, die auf sich und ihre eigene Gesundheit achtet, kann auch dies von den Mitarbeitern verlangen.

 

MP: Welchen Einfluss hat gesunde Führung auf die Gesundheit der Mitarbeiter?

 

JD: Gesunde Führung adressiert Bedürfnisse und Ziele der Mitarbeiter. Sie thematisiert eine maßvolle Work-Life Balance wie auch die Bedeutung eines erfolgreichen und zielorientierten Arbeitens. Geschieht dies mit den richtigen Worten und zur richtigen Zeit, wird man von den Mitarbeitern mit weniger Krankheit, Resignation oder innerer Kündigung belohnt.

 

MP: Wie können Führungskräfte Gesundheitsgefahren bei Ihren Mitarbeitern erkennen?

 

JD: Führungskräfte müssen sich nicht nur regelmäßig eine Übersicht über krankheitsbedingte Abwesenheit oder Arztbesuche der Mitarbeiter verschaffen. Die Frage nach dem "Wohlergehen" darf niemals eine Floskel sein, sondern sollte immer ernst gemeint sein. Ein Mitarbeiter, der in einer anstrengenden Projektphase von einem ausgelassenen Wanderwochenende mit Freunden berichtet, kann Stress offenbar besser kompensieren als derjenige, der das halbe Wochenende arbeitet und die restliche Zeit schläft. Ändert sich zudem das Verhalten eines Mitarbeiters, Essgewohnheiten, Konzentrationsfähigkeit, Pünktlichkeit oder auch nur das Aussehen und Auftreten, dann muss die Führungskraft nachfragen. Auch sollten Hinweise von Kollegen immer sehr ernst genommen werden. Bevor Mitarbeiter krankheitsbedingt ausfallen, muss eine Führungskraft tatkräftig einschreiten und ggf. "Freizeit anordnen".

 

MP: Was können Führungskräfte für Ihre Mitarbeiter tun bzw. welche gesundheitsfördernden Maßnahmen gibt es?

 

JD: Führungskräfte haben zunächst einmal sicher zu stellen, dass der Arbeitsplatz der Mitarbeiter gesundheitsfördernd ist. Da Rückenschmerzen das häufigste Gesundheitsproblem vor allem bei Büroarbeitsplätzen ist, ist natürlich auf entsprechende Büromöbel zu achten. Stehpulte sind heute in vielen Büros Standard. Gerade bei sitzenden Tätigkeiten ist auf Abwechslung zu achten. Nicht jeder kann leider an der frischen Luft mit körperlicher Bewegung arbeiten. Aber regelmäßige Sitzungspausen oder Unterbrechungen der Schreibtischarbeit mit ein paar Dehnungsübungen oder Kurzspaziergängen helfen Beschwerden vorzubeugen. Ich persönlich versuche so oft wie möglich Besprechungen mit Spaziergängen zu verbinden und zum Beispiel Telefonate im Stehen zu erledigen. Ansonsten sollten Führungskräfte Vorbild sein: Treppen steigen statt Fahrstuhl fahren. Zur Arbeit mit dem Rad fahren statt mit dem Auto und Obstschalen statt Schokoriegel auf dem Schreibtisch. Ich glaube aber, dass neben den genannten "Klassikern" die Arbeit selbst gesundheitsgerecht sein muss: Neben einer umsichtigen und realistischen Aufgabenplanung und einem vernünftigen Zeitmanagement ist natürlich der Ausgleich zum Beruf entscheidend. Dazu gehören regelmäßiger Sport und Bewegung genauso wie die richtige Ernährung. Am wichtigsten ist aus meiner Sicht aber Zeit mit Familie und Freunden sowie das Praktizieren von Hobbys, die mit dem Job nichts zu tun haben. Musik, lesen, Gartenarbeit oder kochen mit Freunden finde ich sehr gesundheitsfördernd. Als Führungskraft sollte man sich nicht scheuen, gesundheitsförderndes Verhalten anzusprechen bzw. auch ungesundes Arbeiten zu thematisieren. Wir haben hier eine Verantwortung sowohl gegenüber dem Mitarbeiter als auch gegenüber dem Unter-nehmen, dass für leistungsfähige Mitarbeiter schließlich auch anständig bezahlt.

 

MP: Welche Bedeutung haben in diesem Zusammenhang Betriebsärzte, der Betriebsrat, das Integrationsamt, die Personalabteilung, der Arbeitspsychologische Dienst, interne und externe Mediatoren und sonstige Berater?

 

JD: Alle genannten Gruppen sollten das gemeinsame Ziel haben, die Mitarbeiter gesund und munter zu halten. Betriebsärzte sind dabei Vertrauenspersonen, bei denen oft sehr vertrauliche und sensible Informationen über die Gesundheit der Mitarbeiter auflaufen. Wir sollten deshalb regelmäßig die Betriebsärzte fragen, ob sie gefährliche Entwicklungen bei der Mitarbeitergesundheit beobachten, denen man frühzeitig entgegenwirken sollte. Auch wenn Ärzte im Einzelfall immer zur strengen Verschwiegenheit verpflichtet sind, so können Sie doch übergeordnete Themen wie "Krankheitswellen" oder Beschwerdemuster durchaus ansprechen. Solche Informationen muss man unbedingt ernst nehmen. Ich habe auch sehr gute Erfahrungen mit Betriebsräten gemacht, die helfen können, wenn man Mitarbeiter z.B. zu mehr Bewegung oder besserer Ernährung motivieren will. Wir haben z.B. mit den Betriebsräten die Menüs der Kantine festgelegt oder Aktionen wie „mit dem Rad zur Arbeit" geplant. Und genauso wie bei den Betriebsärzten gilt: Betriebsräte sind oft ein sehr wichtiges „Frühwarnsystem", wenn es um Gesundheitsprobleme geht.

 

MP: Wie wichtig ist eine Unternehmens-strategie zum Thema „Gesunde Füh-rung“?

 

JD: Ab einer gewissen Größe sollte sich jedes Unternehmen ein Führungsleitbild geben. Gerade wenn die Organisation komplex ist brauchen die Führungskräfte etwas Greifbares, an dem sie sich bei Führungsfragen orientieren können. Im Führungsleitbild sollten Mitarbeitergesundheit und deren Erhaltung definitiv behandelt sein. Ich habe viele Jahre in Krankenhäusern gearbeitet, wo das Personal der wichtigste Erfolgsfaktor und gleichzeitig auch der größte Kostenfaktor sind. Führungskräfte müssen wissen, wie sie mit Mitarbeitern im Sinne der Gesundheitsförderung umzugehen haben. Gerade in Krankenhäusern wird dieses Thema oft vernachlässigt. Man stellt die Gesundheit der Patienten wortreich in den Mittelpunkt, und man übersieht dabei, dass man in der Pflege einen Krankenstand von 10% hat. Ob man Führungsprinzipien in diesem Bereich allerdings immer gleich "Strategie" nennen muss, ist eine andere Frage. Strategie hat etwas mit Differenzierung und Wettbewerbsvorteilen zu tun, und oft geht es bei Gesunder Führung einfach nur darum, das Richtige zu tun und das Falsche zu lassen.

MP: Warum sind Prävention und Gesundheitsförderung relevante Handlungs-felder?

 

JD: Weil in der Bundesrepublik Deutschland die Produktivität des Personals nun einmal der wichtigste Hebel des wirtschaftlichen Erfolgs ist. Deshalb sind die Vorbeugung von Krankheiten und der Erhalt der Gesundheit für die Gesellschaft und fast jedes Unternehmen von höchster Priorität. Als Arzt erlaube ich mir noch hinzuzufügen, dass jenseits aller ökonomischen Aspekte der Erhalt der Gesundheit ethisches Gebot ist. Gesundheit, Zufriedenheit und Selbstbestimmung sind eng miteinander verknüpft. Wo immer Menschen miteinander leben und arbeiten, müssen wir das fördern.

 

MP: Wie kann der Gesundheitsstatus in einem Unternehmensbereich ermittelt werden?

 

JD: Neben den genannten Kennzahlen aus dem Personalbereich habe ich regemäßige anonyme Mitarbeiterbefragungen aber auch die Berichte der gesetzlichen Krankenkassen über die Krankheitstrends meiner Mitarbeiterschaft, natürlich kumuliert und anonymisiert, sehr hilfreich gefunden. Bei den regelmäßigen Gesprächen mit Mitarbeitervertretern und Betriebsärzten ist das Thema fester Agendapunkt.

 

MP: Anhand welcher Kennzahlen kann der Gesundheitsstatus der Mitarbeiter im Krankenhaus aufgezeigt werden?

 

JD: Neben Personalumschlag und Krankenstand ist im Krankenhaus vor allem eine sinkende Weiterempfehlungsquote der Patienten ein sensibler Indikator: Wenn Patienten nicht mehr zufrieden sind, dann liegt das meistens an fehlender Empathie der Mitarbeiter. Und Mitarbeiter verlieren ihre Empathiefähigkeit, wenn sie gestresst, überarbeitet oder krank sind.

 

Autorenanschriften

Dr. Jens Deerberg-Wittram, Executive Director, The Boston Consulting Group, Ludcke House 303, 10 Soldiers Field Road, 02163 Boston, MA, E-Mail: jdeerbergwittram( at )hbs.edu

 

Mario Pfannstiel, Hochschule Neu-Ulm, Fakultät für Gesundheitsmanagement, Wileystraße 1, 89231 Neu-Ulm,                    E-Mail: mario.pfannstiel( at )hs-neu-ulm.de