„In Kri­sen­si­tua­tio­nen ist es wich­tig, be­re­chen­bar zu blei­ben und durch­ge­hend so zu füh­ren, wie man im­mer ge­führt hat.“

Interview mit Jörg Ahrens

Seit April 2020 leitet Generalarzt Dr. med. Jörg Ahrens als Kommandeur und Ärztlicher Direktor das Bundeswehrkrankenhaus in Ulm, eines von insgesamt fünf Krankenhäusern der Bundeswehr. Er spricht über Führung bei der Bundeswehr und die Bedeutung von Werten und Kameradschaft mit Achim Weiand und Rupert Bardens.

Interviewserie: Führung: Wir reden mit.
Januar 2023

In­ter­view mit Jörg Ah­rens

Frage: Sehr geehrter Herr Dr. Ahrens, schön, dass Sie Zeit für ein Interview zum Thema Führung haben. Was ist Ihrer Meinung nach das Besondere an Führung in einem Krankenhaus der Bundeswehr?

Jörg Ahrens: Ich glaube, dass die Bundeswehr eine besondere Art von Organisation ist, aber am Ende des Tages geht es auch hier bei Führung stets darum, Menschen adäquat wahrzunehmen und zu führen. Selbst wenn die Abhängigkeitsverhältnisse in einer militärischen Organisation sich von denen in zivilen Unternehmen unterscheiden, so geht es doch grundsätzlich darum, immer wieder zu schauen, wie man mit den Menschen umgeht und diese mitnimmt, um als Führungskraft seine eigenen Vorstellungen umzusetzen. Ich persönlich möchte, dass meine Mitarbeiter Patienten so behandeln und sich untereinander auch im Einsatz so verhalten, wie es in unserem Leitbild steht: „Der Menschlichkeit verpflichtet.“

Frage: Wie sieht die Führung eines Bundeswehrkrankenhauses aus im Vergleich zur Führung eines zivilen Klinikums als ärztlicher Direktor?

Jörg Ahrens: Wenn ich unser Bundeswehrkrankenhaus vergleiche mit dem direkt nebenan gelegenen Ulmer Universitätsklinikum, dann sind die Ziele beider Kliniken sehr ähnlich: die stationäre und die ambulante Krankenversorgung sowie die Aus-, Fort- und Weiterbildung der Mitarbeitenden. Wenn aber die Universitätsklinik irgendwann ihre Eleven in die Welt entlässt, damit sie dort ärztlich oder in Gesundheitsfachberufen tätig werden, so werden unsere Leute für den Einsatz qualifiziert und bleiben in der Regel länger bei uns.

Ein weiterer Unterschied wäre die Art der Weisungsbefugnis. Auch in nicht-militärischen Kliniken gibt es so etwas wie eine Weisungsbefugnis von Führungskräften gegenüber Mitarbeitern. Bei der Bundeswehr aber, und damit auch bei uns im Bundeswehrkrankenhaus, gibt es eine Befehlsbefugnis der Führungskräfte und den Anspruch auf Gehorsam der Soldaten und Soldatinnen. In jedem demokratischen Staat gibt es darüber hinaus jedoch die Verpflichtung und die Freiheit des Einzelnen, sich nach seinen Werten und vor allen Dingen nach den im Grundgesetzt definierten Grundwerten dieses Landes zu verhalten. Es besteht damit eine prinzipielle Spannung zwischen der Gewissensfreiheit des Einzelnen und dem Anspruch auf Gehorsam in der Bundeswehr. Diese Spannung versucht die Bundeswehr aufzulösen mit unserer Führungsphilosophie der „Inneren Führung“, unserem Markenkern in Bezug auf wertebasierte Führung. Es geht dabei darum, dass die Armee an ein freiheilich-pluralistisches Staats- und Gesellschaftssystem gebunden wird – und damit auch das Gewissen eines jeden Einzelnen als moralische Instanz und als Kompass Anerkennung findet. Für Soldaten gelten die im Grundgesetz definierten Grundrechte prinzipiell wie für jeden andern Bürger auch. Auf der anderen Seite wissen wir aber auch, dass es in Notfall- und Gefahrensituationen schnell gehen muss und dass wir dann eingeübte Prozeduren mit geringem zeitlichem Spielraum für individuelle Gewissensprüfungen ohne Diskussionen ablaufen lassen müssen.

Frage: Und wie sieht das in einem Krankenhaus der Bundeswehr aus?

Jörg Ahrens: Befehl und Gehorsam spielen im Alltag in einem Krankenhaus der Bundeswehr keine herausgehobene Rolle. Hier treffen sehr gut qualifizierte und hochspezialisierte Menschen aufeinander, die jeweils ihre Fachgebiete beherrschen.

Ich habe als der Chef des Ganzen weder den Anspruch noch die Möglichkeit, alles im Einzelfall besser zu können als meine Mitarbeiter. Es gibt viele Kollegen und Kolleginnen mit hervorragendem Spezialwissen und manuellen Fertigkeiten, über die ich nicht im Ansatz verfüge. Trotzdem habe ich die fachliche Gesamtverantwortung für das gesamte Krankenhaus und muss letztendlich sagen, nach welchen Guidelines sich Führende und Geführte zu richten haben. Dabei erwarte ich nicht weniger, als dass alle an verantwortlicher Stelle ihre Mitarbeiter so führen, wie es meinen Vorstellungen entspricht und wie ich sie selbst letztendlich auch führe.

Frage: Dann ergibt sich die spannende Frage, wie Sie denn führen.

Jörg Ahrens: Wenn Sie nach meinem Führungsverständnis fragen - ich glaube nicht, dass es eine spezielle „Führungsphilosophie Jörg Ahrens“ gibt. Ich bin sehr an Menschenführung interessiert und versuche, mich selbst ständig weiterzuentwickeln.

Aus meiner Sicht ist es wahnsinnig wichtig, selbst-reflektiert zu sein und auch mit sich selbst im Reinen zu sein, um nicht als Führungskraft eigene Probleme auf andere Menschen zu übertragen. Meine feste Überzeugung ist, dass man sich erst einmal selbst führen können muss, um andere Menschen dann auch wirklich gut führen zu können.

Zum anderen glaube ich, dass es bestimmte Eigenschaften sind, die einen Führenden ausmachen. Jetzt bringt aber jeder Mitarbeitende und jede Führungskraft bereits seine eigene Geschichte mit und man kann deshalb Eigenschaften und Einstellungen nur bedingt beeinflussen und ändern. Führung kann man aber lernen durch Erfahrung, durch Seminare, durch das Beobachten von Vorbildern oder durch die Auseinandersetzung mit Fachliteratur. Es gibt aber zweifelsohne auch Menschen mit einem besonderen Talent für Führung, die dann auch besonders gute Führungskräfte werden können. Diese „Goldkörnchen“ muss man finden, fördern und gezielt weiterentwickeln.

Frage: Eine ihrer wichtigsten Aufgaben als Kommandeur wäre dann die Identifikation von Führungskräften mit Potenzial.

Jörg Ahrens: Ja, zuerst die Identifikation und dann die Entwicklung. Genau das sehe ich als meine Aufgabe hier: Eine der wichtigsten Aufgaben eines klinischen Direktors ist es, auch für seine eigene Position ein oder zwei Nachfolger zu suchen und diese dann weiter zu begleiten, sie fachlich wie menschlich in ihrem Persönlichkeitsprofil und ihrem Führungsprofil zu entwickeln.

Frage: Welche Eigenschaften oder Verhaltensweisen sollten Führungskräfte Ihrer Meinung nach haben?

Jörg Ahrens: Mir persönlich sind im Umgang mit Untergebenen wichtig: Man sollte von seiner Persönlichkeit her offen und kommunikativ sein. Ich schätze es sehr, wenn jemand glaubwürdig und transparent ist. Ich halte Integrität und Fairness den Menschen gegenüber für sehr wichtig, gerade das wird von den Mitarbeitenden sehr genau beobachtet und bewertet. Zudem sind Geduld und emotionale Intelligenz wichtig. Ich hatte selbst einen Vorgesetzten, der meinte, dass in dieser Welt zu viel gelobt würde. Das kann ich nicht bestätigen. Ich denke, dass man die Mitarbeitenden mit ehrlichem Lob ungemein positiv verstärken und auch beeinflussen kann. Ein bisschen Leidenschaft für den Job gehört dazu. Ich schätze Humor sehr, da ich glaube, dass man viele Situationen dadurch entspannen kann, dass man sie zwar wichtig nimmt, aber eben nicht zu wichtig. Dann noch Durchsetzungsvermögen „light“ - ich brauche auf jeden Fall Leute, die sich durchsetzen können. Das Durchsetzen gelingt aber bei uns in der Medizin oft schon durch die hohe fachliche Kompetenz, so dass man als Führungskraft vielleicht gar nicht in jedem Fall besonders durchsetzungsstark sein muss.

Frage: Das wäre dann aber auch ein Unterschied zwischen ihnen als Kommandeur eines Bundeswehrkrankenhauses und dem Kommandeur in einer kämpfenden Truppe.

Jörg Ahrens: Der Beruf des Sanitätsoffiziers hat immer einen „Dual Purpose“, denn wir sind immer auf der einen Seite ein Heilberufler und auf der anderen Seite sind wir als Offiziere ausgebildet. Wir haben ein infanteristisches Grundverständnis, weil unsere Leute in einem Gefecht die mobilen Sanitätseinrichtungen besetzen müssen und sich mit der Truppe und in der Truppe verhalten müssen, wie diese das tut. Das ist uns nicht nur vertraut, sondern integraler Bestandteil unseres Berufes.

Im Alltag aber und in einem Krankenhauslehrbetrieb spielt natürlich die fachliche Kompetenz der Führungskraft eine viel größere Rolle als der Rangunterschied. Sie müssen sich vorstellen, dass bei uns im Krankenhaus die Chefärzte am OP-Tisch stehen und ihren Assistenten OP-Techniken zeigen und erläutern. Diese unmittelbare Mentoring-Funktion und die ständige Feedback-Situation von Vorgesetzten und Untergebenen ist bei uns im Krankenhaus deutlich stärker ausgestaltet als in den kämpfenden Truppenteilen.

Frage: Was bedeutet es für Sie, als Führungskraft „selbst-reflektiert zu sein“?

Jörg Ahrens: Ich glaube wirklich, dass man gerade als Führungskraft so reflektiert sein muss, dass man seine eigenen Stärken und Schwächen kennt, also warum man in bestimmten Situationen wie reagiert. Und man sollte zudem auch wissen, woher diese Stärken und Schwächen kommen. Ich bin mittlerweile über 50 Jahre alt und kenne meine neuralgischen Punkte, weil ich in den gleichen Situationen immer wieder so oder so reagiert habe. Wenn mir das bewusst ist, ist der Fehler eigentlich schon erkannt und wird in der Folge möglicherweise auch gar nicht mehr begangen. Wenn man hingegen beispielsweise bestehende Kränkungen, Eifersüchteleien oder Geltungs-Bedürfnis unbewusst in seinem Führungshandeln mit seinen Mitarbeitern austrägt, dann lebt man eigentlich seine eigenen Probleme auf deren Rücken aus.

Ich bin weit davon entfernt, ein perfekter Führer oder gar Mensch zu sein. Das wäre auch eine unbarmherzige Forderung an Vorgesetzte und kein Maßstab, an dem ich selbst gerne gemessen werden würde. Wenn mir das jedoch klar ist, dann ist schon eine ganze Menge gewonnen. Und das meine ich eigentlich mit „sich selbst führen“ – und nicht Selbstmanagement im Sinne von Zeitmanagement.

Es gut ist, wenn man als Führungskraft einen breiten und festen Wertekanon hat und diesen glaubhaft vermittelt und vorlebt. Als Christ bin ich persönlich davon überzeugt, dass man Menschen mögen muss, wenn man sie mit Anspruch auf Gefolgschaft führen will. Misanthropen sind oft in anderen Bereichen erstaunlich erfolgreich, aber nicht, wenn es darum geht, Menschen auch in Krisensituationen erfolgreich zu führen.

Frage: Wenn Sie als Kommandeur das Bundeswehrkrankenhaus als Klinikum der Maximalversorgung mit rund 2.300 Mitarbeitern führen: Wieviel Arzt müssen oder können Sie sein und wie viel Manger müssen Sie sein?

Jörg Ahrens: Die Frage, die dahintersteht, ist ja folgende: Bringe ich einem Manager lieber Medizin bei oder einem Mediziner lieber Management? Um Gesundheitseinrichtungen managen zu können, das ist meine Ansicht, muss man vom medizinischen Fach sein. Das hat einerseits mit der Glaubwürdigkeit von Entscheidungen zu tun, die die Medizin betreffen. Das hat aber andererseits auch damit zu tun, dass man als Nicht-Mediziner sehr viel Zeit benötigt, wenn man immer wieder komplexe medizinische Sachverhalte erklärt bekommen muss, um entscheidungsfähig zu sein. Ich kann im Laufe eines Berufslebens als Nicht-Mediziner am Arbeitsplatz eine ganze Menge über Medizin lernen. Aber selbst, wenn man genau weiß, wie ein Operationssaal funktioniert - es ist besser, wenn man selbst operiert hat. Die Akzeptanz eines Nicht-Mediziners und seiner Entscheidungen wäre bei uns im Bundeswehrkrankenhaus wahrscheinlich nicht sehr hoch. Insofern lautet für mich die Antwort: Zu jeweils einem Drittel Führer, Arzt und Manager.

Frage: Das heißt aber, dass Sie als Mediziner dann „Management“ lernen mussten.

Jörg Ahrens: Ja, ich habe mich darauf vorbereitet und ich wurde systematisch darauf vorbereitet. Ich habe natürlich „kleiner“ angefangen mit einer Management-Aufgabe als Kompaniechef einer Einsatzkompanie mit 200 Leuten. Als Offiziere werden wir immer wieder gezielt in neue Herausforderungen hineingestellt. Es gibt oft einen Wechsel zwischen einer Stabsfunktion, in der man eher administrativ tätig ist und an Systemverständnis hinzugewinnt, und einer Führungsverwendung auf unterschiedlichen Ebenen. Das Ganze wird begleitet von Lehrgängen, Tagungen, Seminaren und Studiengängen, die zwischen vier Wochen und mehreren Jahren dauern können; ein Generalstabslehrgang dauert beispielsweise zwei Jahre in Vollzeit am Stück. Darüber hinaus werden wir ab einer bestimmten Reichhöhe als Führungskräfte gezielt oder über einen längeren Zeitraum gecoacht.

Frage: In vielen Organisationen gibt es Kollegialität als Form der Kooperation von Mitgliedern über das formal Erwartbare hinaus. Was bedeutet Kameradschaft für Sie als Führungskraft?

Jörg Ahrens: Wir sind die einzige mir bekannte Organisation, die ihre Mitglieder durch ein Gesetz zur Kameradschaft verpflichtet (Soldatengesetz § 12). Ich finde das richtig und bin stolz darauf. Kameradschaft geht deutlich über Kollegialität hinaus und beinhaltet ein bisschen Freundschaft, selbst wenn ich mir die Kameradinnen und Kameraden – anders als im Freundeskreis – nicht aussuchen kann. Was ist der Hintergrund für diese Kameradschaft? Von den Soldatinnen und Soldaten im Sanitätsdienst war fast jeder mehrfach im Auslandseinsatz. Das ist Teil unseres Berufes. Bei diesen Einsätzen wird es gerade in Gefahrensituationen fühl- und erlebbar, dass wir unseren Kameraden vorbehaltlos vertrauen und im Zweifelsfall unser Leben anvertrauen. Vertrauen ist bei uns kein Vorschuss auf eine Leistung, die irgendwann kommt, sondern Vertrauen in die Anderen wird andauernd strapaziert. Aus diesen Einsätzen entsteht eine besondere persönliche und kameradschaftliche Verbundenheit.

Frage: Was bedeutet Kameradschaft für Sie als Führungskraft?

Jörg Ahrens: Ich versuche, Kameradschaft vorzuleben, das heißt, ich versuche den Soldatinnen und Soldaten gegenüber Vorgesetzter und zugleich Kamerad zu sein. Das heißt nicht, dass ich gezielt Dinge tue, die nicht den Vorschriften entsprechen, aber im Zweifelsfall wissen meine Mitarbeiter, dass sie sich auf mich verlassen können, dass ich zu 100 Prozent hinter ihnen stehe und mich in Konfliktsituationen immer vor sie stelle. Sie arbeiten unter meinem Schutz. Das ist für mich gelebte Kameradschaft des Vorgesetzten.

Ansonsten macht Führung wie immer etwas einsam, denn von meiner „Sorte“ gibt es nicht so viele hier am Standort. Im System Sanitätsdienst Bundeswehr habe ich aber mein Netzwerk und neben Kameraden auch echte Freunde, mit denen ich mich austauschen kann.

Frage: Wie sieht Führung in Krisensituationen aus?

Jörg Ahrens: Nehmen wir als Beispiel Corona, eine Gesundheitskrise, auf die wir alle nicht vorbereitet waren. Es hat an vielem gefehlt: an Schutzausrüstung, an Tests und an gesichertem medizinischem Wissen über diese Krankheit.

Wichtig ist es aus meiner Sicht, dass man in einer solchen Krise als Führungskraft berechenbar bleibt und auch durchgehend so führt, wie man immer geführt hat. Ansonsten irritiert man seine Mitarbeiter. Man sollte in einer Krise Ruhe und weiterhin Kompetenz ausstrahlen, auch wenn man selbst eventuell manchmal unsicher ist, weil noch nicht alle Informationen zur Verfügung stehen. Oft muss man schnell entscheiden, wenn man sieht, dass Geschwindigkeit in einer Situation völlig unabdingbar ist. Dann darf man sicherlich auch eine Entscheidungsfindung umsetzen, die nicht zu 100 Prozent zu Ende gedacht ist, die aber dringend notwendig ist. Und dann darf man sich selbst sicherlich auch Fehler zugestehen und verzeihen – gerade, wenn die Stunde der Besserwisser kommt, die in der Rückschau alles anders und besser gemacht hätten.

Wir haben am Bundeswehrkrankenhaus Ulm gerade in der Corona-Krise sehr gute Erfahrungen damit gemacht, nicht zu eng zu führen und stattdessen „Leitplanken“ für das Handeln zu definieren. Wir haben nicht alles vorgegeben, sondern vom Ergebnis her definiert, wo wir ankommen müssen. Das ist übrigens auch ein wichtiges Prinzip der inneren Führung: Nicht zu kleinteilig und nicht zu detailliert zu führen, sondern auf Verständnis setzend zu führen. Das hat sehr gut funktioniert. Wir sind bewusst „auf Sicht gefahren“, aber ich hatte das sichere Gefühl und das Zutrauen, dass wir jederzeit schnell unsere Vorgehensweise anpassen und ändern könnten. So hatten wir als Krankenhaus das Glück des Tüchtigen, ohne größere eigene Ausbrüche möglichst vielen Menschen helfen zu können.

Frage: Verändert sich Führung bei Stabilisierungsoperationen oder im Kriegsfall?

Jörg Ahrens: In einem Einsatz greifen bestimmte Algorithmen automatisch ineinander, das wird auch so trainiert. Handgriffe sind absolut aufeinander abgestimmt. Das funktioniert auch mit den multinationalen Partnern, wenn Einheiten in Teams zusammen kombiniert werden. Das läuft dann einerseits sehr ruhig, andererseits aber auch sehr zügig ab. Im Einsatz können Sie bestimmte Dinge nicht diskutieren, dafür fehlt einfach die Zeit. Als Kommandeur entscheiden sie dann, wer aus ihrer Mannschaft aus dem Lager rausgeht und wer nicht, welche Patienten zuerst behandelt werden und welche später. Das kann man hinterher in einer Feedbackrunde alles besprechen, aber im Einsatz muss es eben schnell gehen. Und ich muss mich als Führungskraft darauf verlassen können, dass das auch so funktioniert, wie es abgesprochen und trainiert wurde. Je schneller die Medizin sein muss und je näher sie an einem Notfall dran ist, desto standardisierterist sie.

Frage: Was könnten aus Ihrer Sicht Unternehmen von der Bundeswehr in Bezug auf Führung lernen?

Jörg Ahrens: Zivile Unternehmen interessiert bei uns fast immer die Wertevermittlung. Das ist ja einer der Schwerpunkte der Führungsphilosophie der „Inneren Führung“ der Bundeswehr. Wir werden oft darauf angesprochen, wie wir Werte vermitteln und - letztendlich – wie wir Werte auch leben.

Wir haben ja gerade über die Bedeutung von Kameradschaft bei der Bundeswehr gesprochen. Ich denke, dass es ein Vorteil für viele Unternehmen wäre, wenn die Mitarbeiter die Reihen schließen und nicht auseinanderfallen, wenn es eng wird. Dazu gehört ein enormes kameradschaftliches Vertrauen, das man auch als Teamgeist bezeichnen könnte.

Sehr geehrter Herr Dr. Ahrens, vielen Dank für dieses interessante Gespräch und den Einblick in Führung bei der Bundeswehr.

Die Or­ga­ni­sa­ti­on

Das Bundeswehrkrankenhaus Ulm wurde im Januar 1980 eingeweiht. Es ist ein Krankenhaus der Maximalversorgung und ein überregionales Traumazentrum. In ihm arbeiten rund 2.300 militärische und zivile Mitarbeitende. Das Bundeswehrkrankenhaus Ulm hat 19 medizinische Fachdisziplinen und ist als akademisches Krankenhaus enger Kooperationspartner der Universitätsklinik Ulm.

Generalarzt Dr. med. Jörg Ahrens ist seit April 2020 Ärztlicher Direktor und Kommandeur des Bundeswehrkrankenhauses Ulm. Vorher hatte er neben kurativen Verwendungen mehrere Stabs- (u.a. beim Bundesministerium der Verteidigung) und Führungsaufgaben (u.a. Kompaniechef einer Einsatzkompanie, Leiter des Sanitätsunterstützungszentrums Wilhelmshaven) inne.