„Füh­rung kann ja auch dar­in be­ste­hen, Leu­ten Spiel­raum zu ge­ben und ih­nen da­durch Selbst­ver­trau­en zu ver­mit­teln“

Podcast mit Joo Kraus

Der Ulmer Trompeter Joo Kraus erhielt zwei Grammy Nominierungen, den Echo Jazz als bester deutscher Trompeter und sechs German Jazz Awards in Gold. Im Interview mit Barbara Brandstetter und Achim Weiand spricht er über Führung in der Musik, wechselnde Rollen in einer Band und die Gefahr mit zu engen Vorgaben Kreativität zu zerstören.

Interviewserie: Führung: Wir reden mit.
Juni 2022

In­ter­view mit Joo Kraus

Achim Weiand: Joo, toll, dass Du bei uns bist. Würdest Du Dich kurz für unsere Leserinnen und Zuhörer vorstellen?

Joo Kraus: Ich bin Joo Kraus. Ich bin Ulmer und ich bin Musiker. Ich habe zwischen acht und zehn Jahren angefangen, Musik zu machen mit Klavier und Trompete. Trompete spiele ich immer noch, seit rund 35 Jahren professionell. Ich bin glücklich unverheiratet und habe drei Kinder.

Achim Weiand: Du hast vielfältige musikalische Erfahrungen gemacht: Von der eigenen Band bis zum Musikalischen Leiter.

Joo Kraus: Ja, ich habe neulich eine Mind-Map erstellt zu allem, was ich gerade so mache. Das nannte ich dann „Joos Welt“. Sie war schon erstaunlich bunt und das entspricht auch meinem Lebensmotto „Lieber ein bisschen zu bunt als zu grau“. Ich verantworte aktuell die Musikalische Leitung im Ulmer Theater für das Musical „Addams Family“. Dann habe ich viel mit meiner eigenen Band gespielt und ab und zu mit der SWR Big Band. Zudem bin ich Mitglied bei der Trumpet Night, einem Kollektiv von drei Trompetern. Und dann organisiere in Ulm noch eine eigene Veranstaltungsreihe, bei der ich mir Lieblingsmusiker einlade.

Achim Weiand: Du bist Musikalischer Leiter und Bandleader. Wie funktioniert Führung in einer Band?

Joo Kraus: Ganz unterschiedlich. In meiner Band sind wir zu viert und wir kennen uns seit 20 Jahren. Dann ist Führung etwas völlig anderes, als rund 25 Musiker im Orchestergraben beim Musical im Ulmer Theater zu leiten. Meine Band ist manchmal schon ein großer Kindergarten, dann spinnen wir rum und probieren musikalisch viel aus. Das ist vielleicht sehr undiszipliniert, aber manchmal ist da brutal viel Kreativität drinnen, also durch dieses Rumspinnen kommen wir oft auf tolle Ideen. Einer von uns muss natürlich die Führungsrolle haben und sagen „Okay Jungs, das ist jetzt gut, lass uns das kurz aufnehmen, sonst vergessen wir es.“ So etwas würde ich mich aber etwa mit der SWR Big Band nie trauen.

Achim Weiand: Du sprichst ein wichtiges Thema an. Durch zu „starke“ Führung kann man Kreativität ja auch unterdrücken. Wie viel Spielraum muss man lassen für Kreativität?

Joo Kraus: Wir sind in der Band zu viert und da hat jeder auch mal eine andere Rolle, das wechselt oft. Das erinnert mich ein wenig an Basketball, das ich leidenschaftlich gerne anschaue. Dort ist es oft so, dass du direkt merkst, jetzt übernimmt einer der Spieler gerade die Führung oder der Spieler vergisst gerade, die anderen anzugucken und anzuspielen. So ist es auch bei uns: Wenn man zu selbstverloren ist oder die Ohren nur für sein Eigenes offen hat, dann fällt etwas auseinander. Aber in unserer Band wechselt die Führung oft und letztendlich geht es jedem von uns darum, ein gutes Konzert zu spielen oder ein gutes Album aufzunehmen. Das hat jeder im Kopf und deswegen wird sich auch jeder immer für die gemeinsame Sache einsetzen.

Barbara Brandstetter: Wie wichtig ist dann, dass ihr Euch seht beim Spielen? Oft sieht man ja Aufnahmen aus Musikstudios, bei denen jeder Musiker in einer eigenen Box sitzt.

Joo Kraus: Mir ist es tatsächlich am liebsten, wenn man gemeinsam in einem Raum spielt. Das geht manchmal zulasten der Aufnahmequalität, weil man dann auf einem Streicher-Mikrofon viel vom Schlagzeug hört. Aber vielleicht ist der Sound doch besser, weil die Musiker mit mehr Kreativität spielen. Und was Führung angeht, ist es natürlich viel einfacher, wenn man sich unmittelbar sieht. Dann kann zumindest ich besser führen, weil ich genau merke, dass einer gerade komisch guckt. Das merkst du natürlich nicht, wenn zum Beispiel der Schlagzeuger bei einem Musical in einer Box sitzt und den Dirigenten vielleicht nur über einen Monitor sieht. Wenn der Schlagzeuger aber zwei Meter neben mir sitzt und meine Augen sieht oder meine Begeisterung spürt, dann kann ich besser führen.

Barbara Brandstetter: Wo gerät der eher „lockere“ Führungsstil in der Band an seine Grenzen?

Joo Kraus: Gerade beim Musical im Theater habe ich gemerkt, dass ich mit meiner Art der Führung Schwierigkeiten hatte. „Meine“ Musiker brauchen eine andere Art von Führung beziehungsweise sie brauchen vielleicht auch viel weniger Führung als manche klassischen Musiker. Klassischen Musikern muss man nach meiner Erfahrung alles etwas genauer sagen, wahrscheinlich wegen der Komplexität eines Orchesters: Hier auf die 2 ein bisschen leiser, auf der 3 dann mezzoforte und einen Akzent auf die 4. Ich hatte manchmal das Gefühl, dass sie wollen, dass man ein bisschen streng guckt und ich mit meiner Art „Hey, lass uns alle Spaß haben“ am Anfang nicht sehr weit kam.

Barbara Brandstetter: Kann ein weniger „enger“ Führungsstil auch Vorteile haben?

Joo Kraus: Ja, zum Beispiel jetzt bei der Arbeit mit Schauspielern bei der „Addams Family“, die allesamt sehr musikalisch sind, aber vielleicht keine Gesangsausbildung haben oder auch nicht so gut Noten lesen wie Musiker. In diesem Fall ist es interessant, dass man sie zu ihrem Potenzial führen kann, indem man sie nicht „traditionell“ führt, sondern sie unterstützt. Und ihnen das Gefühl gibt „Das wird gut und du bist gut“ – natürlich nur, wenn man weiß, dass sie das hinbekommen. Bei der „Addams Family“ haben einige der Schauspieler zu mir gesagt „Ach, das ist so schön, dass du uns nicht ständig sagst, was wir machen müssen.“ Wenn man sich mit Musik auskennt, dann weißt du genau: dem Typen musst du es genau sagen, der checkt es nicht, oder den anderen musst du einfach nochmal ‘ne Runde drehen lassen, dann kommt er von alleine darauf oder lernt dann selber. Woanders wird das ähnlich sein. Das ist jetzt keine Führung, bei der man jemanden an die Hand nimmt. Aber Führung kann ja auch darin bestehen, Leuten Spielraum zu geben und ihnen dadurch Selbstvertrauen zu vermitteln.

Barbara Brandstetter: Führung heißt für Dich dann, Menschen wachsen zu lassen?

Joo Kraus: Ja, das würde ich absolut so sehen. Natürlich muss man jemanden an die Hand nehmen, wenn man erkennt, der stürzt sich jetzt ins Unglück, oder wenn ich den so weiter machen lassen, dann blamiert er sich.

Barbara Brandstetter: Hast Du mit zu viel Gängelei selbst schon einmal negative Erfahrungen gemacht?

Joo Kraus: Das ging mir mal bei einem Trompetenkonzert so, da war ich vielleicht 16 oder 17 Jahre alt. Das war das Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester von Schostakowitsch. Wenn jemand immer sagt „Das war schon ganz gut, aber…“, dann wirst du immer kleiner und immer enger und ängstlicher. Die Ratschläge waren wahrscheinlich alle gut gemeint, aber ich war am Schluss so verkorkst innen drin, es war furchtbar. Da habe ich keinen Ton mehr rausgebracht.

Barbara Brandstetter: Wo hast Du dann Führung gelernt? Hast Du Dir das an Beispielen abgeschaut?

Joo Kraus: Ich habe mir wahnsinnig viel abgeguckt bei anderen. So habe ich ganz viel von Omar Sosa gelernt, einem kubanischen Pianisten, mit dem ich in den unterschiedlichsten Besetzungen und auch überall auf der Welt gespielt habe. Da gab es eigentlich keine Führung im klassischen Sinne. Ich wusste oft vorab nicht, was wir spielen. Dann meinte er immer, komm, jetzt spielen wir doch das an, „just go with the flow“. Und dann gab er so dominant etwas vor am Klavier, dass du genau wusstest, was er wollte. Er schaute dich aber auch fordernd an und dann musstest du die Führung übernehmen. Ja, am Anfang war es natürlich sehr ungewohnt und manchmal war man vielleicht auch unsicher, aber es hat funktioniert.

Barbara Brandstetter: Für diese Art von wechselnder Führung und Improvisation brauchst Du aber auch Leute auf der Gegenseite, die ihr Fach beherrschen.

Joo Kraus: Ja, ich finde, man merkt schnell bei Musikern, „Okay, der kann das Ding jetzt nicht reißen“, und dann zieht man die Führung wieder an sich. Man wächst da allmählich rein. Ich merke jetzt seit fünf oder zehn Jahren beim Spielen, dass ich ab und an denke „Ich glaube, ich führe gerade ganz gut.“ Ich bin schon ein Bandleader, aber wenn ich gerade kein Solo habe, dann gehe ich ein bisschen links an die Bühne, so dass man den Solisten sieht und ich nicht direkt vor ihm stehe. Ich merke bei der Zusammenarbeit mit anderen Musikern, dass ich Situationen erkenne und zur richtigen Zeit das Zepter mal kurz in die Hand nehme, oft nur zwei Minuten, und dann läuft es wieder. Beim Musikmachen gibt es oft sehr subtile Führungswechsel. Die besten Bands sind oft diejenigen, bei denen die Führung ganz oft wechselt und nicht nur einer im Vordergrund steht.

Barbara Brandstetter: Gibt es auch Konkurrenz um Führung, zum Beispiel mit Produzenten oder Veranstaltern?

Joo Kraus: In den Verträgen steht ganz klar drin, was bei einem Konzert bezahlt wird, wie die Garderobe aussehen muss oder was in der Garderobe stehen soll. „Meine“ Spezies Musiker, also die improvisierenden Musiker oder die Pop-Jazz-Typen, sind sehr entspannt. Der Umgang untereinander ist sehr respektvoll und da braucht es irgendwie gar nicht so harte Absprachen. Aber Veranstalter wollen ganz klar wissen: Ja, wir als Band wollen Gummibärchen in der Garderobe. Die Verhandlungen sind mitunter sehr hart, meistens aber wohlwollend. Aber es gibt manchmal auch welche, die nehmen es nicht so genau. Und wenn du merkst, die respektieren dich nicht, dann muss man als Bandleader für seine Mitmusiker eintreten und einstehen. In München haben wir neulich in einem sehr bekannten Jazzclub gespielt. Vor dem Auftritt sind sie gekommen und haben gesagt: „Hier ist die Karte, was für eine Pizza wollt ihr haben?“ Ich wollte keine Pizza, aber sie sagten, es gibt nur Pizza. Ich fand es unmöglich, dass du dann vier Pizzakartons in die Garderobe gestellt bekommst. Es ist schließlich DER Laden in München, da spielen alle guten Bands. Man muss dann halt sagen: „Ich will mit Messer und Gabel von einem Teller essen“.

Achim Weiand: In solchen Fällen übernimmst dann Du die Führung und Verantwortung für Deine Bandmitglieder?

Joo Kraus: Richtig, genau. Manchmal ist ein Tour-Begleiter dabei als Mädchen für alles. Aber wenn wir zu viert spielen, dann muss natürlich einer von uns der Tour-Manager sein und das bin meistens ich. Ich spiele zum Beispiel auch in einer anderen Band mit und das ist interessant: Jedes Mal, wenn du in der Führungsposition bist, siehst du viele Dinge nicht mehr so locker. Wenn ich beispielsweise bei Rüdiger Baldaufs „Trumpet Night“ spiele, bin ich ein Gaststar. Und wenn sich Rüdiger als Veranstalter gegen Pizza wehrt, dann sage ich: „Komm, Rüdi, wir haben was zu essen, ist doch alles cool, wir haben eine warme Garderobe, wir haben Spaß miteinander und wir dürfen Musik machen.“ Das ist interessant, dass allein aufgrund der Führungsposition plötzlich eine Pizza gut oder eben nicht gut ist.

Barbara Brandstetter: Was sind aus Deiner Sicht Eigenschaften, die man als Bandleader braucht?

Joo Kraus: Das allererste ist musikalische Kompetenz. Du musst wissen, was du machst, sonst bist du früher oder später verloren. Du machst dich zum Affen oder du wirst aufgrund Deiner Unsicherheit autoritär. Wenn du Bandleader bist und von Musik nicht so viel Ahnung hast, wirst du auch nicht ernst genommen. Dann würde ich immer mit einem Gefühl der Unsicherheit rumlaufen „Hoffentlich merken die es nicht“. Wenn ich das Gefühl hätte, ich bin ein Scharlatan oder ich bin jetzt doch kein richtig professioneller Musiker, würde ich 1.000 Tode sterben. Fachliche Kompetenz ist wirklich das Wichtigste. Und wenn man „sein Zeug beieinander“ hat, dann hat man meistens eine gute Balance. Man weiß einerseits, wohin es gehen soll, und andererseits hat man sein Ohr immer auch offen für Sachen, die einem vielleicht erst einmal fremd vorkommen. Ich finde wichtig, dass der Kosmos immer ein bisschen geöffnet bleibt.

Achim Weiand: Musikalische Kompetenz hilft dabei, souverän zu bleiben?

Joo Kraus: Absolut, und das gibt dann eine innere Sicherheit. Diese musikalische Kompetenz und Sicherheit habe ich einfach. Die habe ich in vielen Bereichen meines Lebens wahrscheinlich nicht. Aber in vielen Bereichen des Musikmachens weiß ich, dass ich das habe. Das führt bei mir ganz oft dazu, dass ich sage „Wie würdet ihr das machen?“ Um wieder auf die „Addams Family“ als Beispiel zu kommen – in der Partitur sind viele Streicher vorgesehen. Und ich habe mit Streichern noch nicht so viel gemacht und ich weiß auch nicht perfekt, wie ein Streichinstrument funktioniert. Wenn die Streicher in den Proben fragen, „Sollen wir das so oder so spielen?“, dann frage ich, ob sie es mir vorspielen können. Und anschließend frage ich oft „Wie würdet ihr es machen?“. Dadurch gebe ich die Führung nicht aus der Hand, aber ich gebe die Kompetenz in dem Moment an jemanden weiter, der es einfach besser weiß. Trotzdem stehe ich vorne mit meinem Dirigentenstab. Ich mag diese Art von Leadern, die offen sind für neue Möglichkeiten.

Achim Weiand: Da unterschiedest Du Dich aber von anderen Bandleadern, die immer im Vordergrund stehen wollen.

Joo Kraus: Ich kann ja immer nur für meine Musik-Sparte sprechen. Ich kann mir vorstellen, wenn du ein Orchester mit 80 Musikern hast, wird wahrscheinlich jeder Dirigent sagen „Du darfst nie das Zepter aus der Hand geben!“ Damit habe ich keine Erfahrung, ich habe Erfahrung mit Besetzungen mit bis zu 20 oder 30 Musikern.

Barbara Brandstetter: Du bist ja schon lange im Business: Hat sich Führung in Bands verändert in den vergangenen Jahren?

Joo Kraus: Man kann das wahrscheinlich nicht generell sagen, aber die Bandleader sind heute easier. Ich glaube früher existierte eher eine diktatorische Bandleitung. Diese hat sich zu mehr „Demokratie“ verändert. Ich habe angefangen, die Dokumentation von Peter Jackson zu den Beatles zu schauen, dieses Neun-Stunden-Epos. Und was man dort schön sieht: Die Beatles jammen, aber die machen auch unfassbar viel Blödsinn und es kommt trotzdem etwas Gutes dabei raus. Und wenn sie nicht mehr weiterwissen, dann spielen sie lauter Coversongs von Roy Orbison oder Soul-Sachen. Vielleicht ist Paul McCartney oft eine Art „guter Führer“ in der Band. Die Beatles waren wahrscheinlich eine der ersten Bands, die es überhaupt gab. So machen sie auch Musik: Da kommt nicht einer mit einem fertigen Song an und übt diesen mit den anderen ein, sondern sie treffen sich mit kleinen Ideen und dann wird es gemeinsam gemacht. Damals hat sich tatsächlich etwas beim Musik-Machen geändert. Es waren nicht mehr nur Einzelkünstler wie Bill Haley oder Elvis Presley mit ihren Begleitbands. Das war eine tolle Entwicklung. Dadurch kam diese ganze Song- und Popkultur auf.

Barbara Brandstetter: Joo, herzlichen Dank das Gespräch.

Zur Per­son

Joo Kraus gewann mit 19 Jahren den ersten Preis beim Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“. Er sammelte fünf Jahre Bühnenerfahrung mit der Elektro-Rock-Band „Kraan“. Mit Hellmut Hattler gründete Joo Kraus Anfang der 1990er Jahre das Hip-Jazz-Duo „Tab Two“. In den 2000er Jahren schrieb Joo Kraus vermehrt eigene Songs. Er produzierte im ältesten Tonstudio Havannas sein Album Sueño und arrangierte Songs von Michael Jackson zu einer Verbeugung vor dem King of Pop. Joo Kraus erhielt 2 Grammy Nominierungen, den Echo Jazz als bester deutscher Trompeter und 6 German Jazz Awards in Gold. Im Februar 2021 kam seine neue CD heraus „We Are Doing Well“. Die Liste seiner musikalischen Partner ist lang: Omar Sosa, die SWR Big Band, Klaus Doldinger, Jazzkantine, DePhazz, Mezzoforte…