„Hoch­be­las­te­ten Mit­ar­bei­tern bringt es nichts, sie zu be­dau­ern.“

Interview mit Birgit Enenkel

Birgit Enenkel verantwortet als Pflegerische Standortleiterin den Pflege- und Funktionsdienst am Ostalb-Klinikum Aalen. Mit über 1.100 Betten, ca. 50.000 stationär und 100.000 ambulant behandelten Patienten pro Jahr sind die Kliniken Ostalb der führende Gesundheitsdienstleister sowie mit über 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zugleich einer der größten Arbeitgeber in der Region. Das Interview führten Achim Weiand und Rupert Bardens.

Interviewserie: Führung: Wir reden mit.
Oktober 2022

In­ter­view mit Bir­git En­en­kel

Frage: Frau Enenkel, in den Berufsbildern der Pflege vollzieht sich durch die Akademisierung der Pflege und die neue generalistische Pflegeausbildung ein großer Wandel. Wie erleben Sie dies im Moment?

Birgit Enenkel: Die Akademisierung in der Pflege ist ein großer Wurf. Ebenso ist die neue generalistische Berufsausbildung eine Herausforderung, die momentan noch einige Hürden mit sich bringt. Und wir haben noch die Akademisierung bei den Hebammen. Auch hier sind wir ab Herbst mit unseren ersten Studierenden dabei. In Summe ein großer Wandel in den Berufsbildern unseres Arbeitsbereiches.

Frage: Was bedeutet diese Akademisierung für die Führungskräfte, die noch aus den alten Berufsbildern kommen?

Birgit Enenkel: Diese Akademisierung tangiert die Führungskräfte und die Mitarbeiter gleichermaßen. Es taucht der Gedanke auf, ob die Mitarbeiter mit Berufsausbildung in der Pflege künftig weniger wert sind als die Kollegen mit dem akademischen Abschluss.
Die Herausforderung für die Führungskräfte ist es, die Vorteile dieser Entwicklung für die Mitarbeiter und die Patienten aufzuzeigen. Wir werden künftig einen Skill-Mix aus fundierter beruflicher Praxis und Erfahrung sowie wissenschaftlich geprägter Arbeitsweise in der Pflege auf den Stationen haben. Hier spielt es eine große Rolle, die Mitarbeiter richtig einzusetzen und alle Beteiligten mitzunehmen. Die Bachelorabsolventen in der Pflege bringen auf Grund ihrer Akademisierung eine wissenschaftlich fundierte Qualifikation mit, die sie für Qualitäts- und Projektthemen im pflegerischen Alltag einbringen können und sollen.
Wesentlich wird es sein, dass der Benefit dieser Entwicklung von allen wahrgenommen wird und die Pflegequalität sich dadurch weiterentwickelt.

Frage: Frau Enenkel, wie unterscheidet sich Führung in der Pflege von Führung in Unternehmen?

Birgit Enenkel: Im klassischen Industrieunternehmen habe ich eine andere Fokussierung; Gewinne und Leistung stehen im Vordergrund. Erfolge und Leistung sind dort besser sichtbar; sie werden daher auch anders vergütet als im Gesundheitswesen. Unsere Mitarbeiter haben eine andere Sozialisierung; für sie steht der Mensch im Vordergrund, Erfolg und Leistung sind schwerer messbar.

Frage: Was zeichnet eine gute Personalführung in der Pflege aus?

Birgit Enenkel: Authentizität und die Balance im Spagat zwischen Mitarbeiter- und Organisationsinteressen sind für mich zwei wesentliche Merkmale gute Personalführung. Als Führungskraft muss ich auch Vorbild sein; die Mitarbeiter müssen sich an mir orientieren können. Und ganz wesentlich sind das Treffen von Entscheidungen und die Information – das Mitnehmen – der Mitarbeiter.

Frage: Haben Mitarbeiter in der Pflege, für die das Helfen und der Mensch im Fokus sind, einen anderen Anspruch an Führung als beispielsweise Mitarbeiter in der Industrie?

Birgit Enenkel: Ich denke, dass man dies nicht so pauschal beantworten kann. Es kommt immer auf den einzelnen Mitarbeiter an, auf seine Motivation und seine Ansprüche an sich selbst und sein Umfeld. Wir müssen ferner die Entwicklungen der letzten Jahre und die Unterschiedlichkeiten der Generationen im Blick haben. Es mag früher vielleicht Unterschiede gegeben haben. Aber aktuell glaube ich nicht, dass sich der Anspruch unserer Mitarbeiter stark von den Ansprüchen der Mitarbeiter in der Industrie bzgl. Führung unterscheidet.

Frage: Spielt das Thema „Personalführung“ in der Weiterbildung eine Rolle?

Birgit Enenkel: Ja, unsere neuen Führungskräfte und Nachwuchs-Führungskräfte in der Pflege unterstützen wir durch Fort- und Weiterbildungen, beispielsweise spezifisch für Stationsleitungen.

Frage: Die Pflege hat seit zwei Jahren viele Herausforderungen zu bewältigen. Die Pandemie, verbunden mit dem Applaus für die Mitarbeiter in der Pflege, aber auch das Thema Impfpflicht für die Mitarbeiter. Hat sich dies in der Führung bemerkbar gemacht?

Birgit Enenkel: Ja, auf jeden Fall. Am Anfang der Pandemie wusste niemand, was auf einen zukommt, das war für alle neu. Da war plötzlich dieses hochansteckende Virus und wir wurden plötzlich in der Pflege mit unserer Arbeit anders wahrgenommen. Es wurde geklatscht und wir hatten das Gefühl, es tut sich etwas. In der Pflege gab es eine Aufbruchsstimmung und einen Geist des Zusammenhalts: Wir schaffen das. Inzwischen hat das Klatschen aufgehört und die anfängliche Wertschätzung ist verblasst. Geblieben ist aber die hohe Belastung für die Mitarbeiter in der Pflege. Viele Mitarbeiter sind müde geworden und erschöpft. Und manch ein Mitarbeiter fragt sich: Wo sind die, die geklatscht haben? Wo ist die versprochene Unterstützung?
Die Impfpflicht für unsere Berufsgruppe stößt bei vielen auf Unverständnis. Wir müssen uns impfen, um andere zu schützen. Es wäre anders, wenn die Impfpflicht bei uns begonnen hätte und dann auch für andere gegolten hätte. Aber allein uns eine Impfpflicht aufzuerlegen, ist für viele unserer Mitarbeiter schwer nachvollziehbar.

Frage: Was macht man als Führungskraft mit einer derart hochbelasteten Belegschaft?

Birgit Enenkel: Präsenz zeigen und authentisch sein sind in dieser Situation wichtig. Es bringt nichts, den Mitarbeiter zu bedauern. Die Mitarbeiter müssen auch den Raum bekommen, sich mitzuteilen. Und wir versuchen Angebote zu machen, die Mitarbeiter zu unterstützen, beispielsweise durch professionelle Begleitung bei Sorgen und Ängsten.

Frage: Als Pflegerische Standortleiterin führen Sie Führungskräfte. Stationsleitungen führen Pflegefachkräfte. Wo liegen die Unterschiede?

Birgit Enenkel: Stationsleitungen haben eine Sandwichposition zwischen ihren Mitarbeitern und ihren Führungskräften. Die Stationsleitungen arbeiten neben ihren Führungs- und Organisationsaufgaben noch ganz normal in der Pflege mit. Sie sind nicht für reine Führungsaufgaben freigestellt. Dies stellt einen Spagat für die Führungskräfte dar. Dieser Spagat spiegelt sich jedoch auch in der nächsthöheren Führungsebene wieder, wenn hier auch neben den operativen Aufgaben strategische Ausrichtungen wie etwa die Weiterentwicklung des Pflegedienstes sowie das Coachen der Führungskräfte mehr Raum einnehmen.

Frage: Stationsleitungen werden häufig aus dem Pflegeteam der Station rekrutiert. Das heißt hier findet ein Rollenwechsel statt. Wie erleben Sie diesen Wechsel?

Birgit Enenkel: Das Wichtigste ist, diesen Rollenwechsel transparent zu machen und vorab zu besprechen. Das wird gerne unterschätzt. Aus der Rolle des normalen Teammitglieds komme ich in die Rolle, auch Entscheidungen wie etwa zur Personaleinsatzplanung zu treffen oder mitvertreten zu müssen, die im Team vielleicht auf wenig Gegenliebe oder ein geteiltes Echo stoßen. Das im Vorfeld sich bewusst zu machen, ist wichtig. Daneben braucht es Unterstützung in der neuen Rolle, sei es durch Schulung oder Coaching. Es ist aber immer wieder eine Herausforderung, wenn aus einem Team heraus jemand in eine Führungsposition hineingeht und dann von der Kollegin, vom Kollegen zur Führungskraft wird. Mein Tipp: Wer glaubt, dass er oder sie nach dem Wechsel zu einem klassischen Chefverhalten übergehen kann, wird merken, dass dies nicht funktioniert. Die Akzeptanz im Team wird dann fehlen. Auch ist es wichtig, authentisch zu bleiben. Entscheidungen müssen getroffen werden und ich muss zu Entscheidungen stehen.

Herzlichen Dank für dieses sehr interessante Gespräch.