„Im Ein­satz muss ich ent­schei­den. Nichts ist schlim­mer, als kei­ne Ent­schei­dung zu tref­fen.“

Interview mit Adrian Röhrle

„Im Einsatz muss ich entscheiden. Nichts ist schlimmer, als keine Entscheidung zu treffen. Während eines Einsatzes kann ich keine Entscheidungstransparenz für alle herstellen. Außerhalb der Einsätze ist uns Überzeugung wichtig und die Arbeit muss für jeden sinnstiftend sein.“

Seit 2020 ist leitender Branddirektor Adrian Röhrle Feuerwehrkommandant der Stadt Ulm und Leiter der Abteilung Feuerwehr und Katastrophenschutz. Er spricht über Führung bei der Feuerwehr und das Treffen von Entscheidungen im Einsatz mit Rupert Bardens und Achim Weiand.

Interviewserie: Führung: Wir reden mit.
Februar 2023

In­ter­view mit Adri­an Röhr­le

Frage: Sehr geehrter Herr Röhrle, schön, dass wir heute bei Ihnen sein dürfen. Führen bei der Feuerwehr bedeutet Führen in einem speziellen organisationalen Umfeld. Die Feuerwehr ist rund um die Uhr da, hier arbeiten Hauptberufliche und Ehrenamtliche, es gibt viele Regeln, was wann zu tun ist, und Sie haben hohe Anforderungen an die Mitarbeiter. Wir sind gespannt, was Sie uns zu Führung berichten. Wieviel Mitarbeiter haben Sie in Ulm?

Adrian Röhrle: In Ulm sind wir derzeit 74 hauptamtliche Mitarbeiter und ca. 520 ehrenamtliche Einsatzkräfte. Dazu kommen im Ehrenamt zusätzlich jeweils 150 Kräfte in der Altersabteilung und in der Jugendfeuerwehr. In Summe sind wir also ca. 1.000 Mitglieder, zusammen mit den Fachberatern wie beispielsweise der Notfallseelsorge oder den Rettungshundeführern.

Frage: Ist die Gewinnung von Personen für das ehrenamtliche Engagement in der Feuerwehr Ulm für Sie ein Problem?

Adrian Röhrle: Nein, nicht grundsätzlich. Wir stellen im Gegensatz zum landläufigen Trend sogar einen leichten Zuwachs bei den Interessenten für das Ehrenamt bei uns fest. Dennoch müssen auch wir uns um Nachwuchs bemühen.

Frage: Sie führen hauptamtliche und ehrenamtliche Mitarbeiter. Gibt es dabei in der Führung einen Unterschied?

Adrian Röhrle: Den Unterschied gibt es. Im Hauptamt bin ich im Beamtenwesen; diese Einsatzkräfte sind Beamte. Hier muss ich beispielsweise die beamtenrechtlichen Vorschriften zur Arbeitszeit beachten. Aber ich kann diese Mitarbeiter anders ausbilden. Ich weiß, dass sie mir in der Regel bis zum Ruhestand erhalten bleiben.

Im Ehrenamt muss ich stärker die persönliche Situation wie Familie und Beruf berücksichtigen. Hier gibt es beispielsweise oft in der Spanne zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr eine Phase, in der Familie und Beruf eine höhere Priorität bekommen. Da verlieren wir dann auch manche Kameradinnen und Kameraden. Diese ehrenamtlichen Einsatzkräfte stehen uns vor allem am Wochenende und abends zur Verfügung. Das bedeutet in der Führung einen anderen Zeitansatz als zu den klassischen Bürozeiten.

Im Umgang miteinander gibt es kaum einen Unterschied, da wir bei der Ulmer Feuerwehr einen sehr wertschätzenden Umgang miteinander pflegen. Hier ist uns auch die Transparenz in Entscheidungsprozessen wichtig.

Frage: Gibt es bezüglich der Entscheidungstransparenz einen Unterschied zwischen Führung im Einsatz und Führung außerhalb der Einsätze?

Adrian Röhrle: Während des Einsatzes kann ich die Transparenz nicht herstellen. Hier sind Entscheidungen zu treffen; es gilt das Prinzip von Befehl und Gehorsam und es greift die klare Hierarchiestruktur.

Außerhalb der Einsätze haben wir auch die Hierarchiestruktur, aber wir versuchen, unsere Mitarbeiter von den Entscheidungen zu überzeugen. Das, was unsere Kameradinnen und Kameraden tun, sollte für sie einen Sinn ergeben – es muss sinnstiftend sein. Die Pflege unserer technischen Geräte ist manchmal eine stupide Arbeit. Wenn ich aber weiß, warum ich das machen muss, damit die Ausstattung im Einsatz zuverlässig genutzt werden kann, die Geräte geprüft sind und jeder sich auf die Funktion verlassen kann, da es unsere Lebensversicherung ist, dann macht es Sinn.

Frage: Im Einsatz ist kaum Raum für Diskussionen. Einsätze müssen abgearbeitet werden. Wird im Anschluss an Einsätze über den Einsatz gesprochen?

Adrian Röhrle: Ja, bei Bedarf nutzen wir Einsatz-Nachbesprechungen. Wir haben sehr hohe Standards. Wir versuchen bei der Feuerwehr, das Nicht-Kalkulierbare kalkulierbar zu machen. Denn wir wissen ja nicht, welcher Einsatz der nächste ist und wie die Aufgabenstellung aussieht: Ist es ein Brand auf dem Dach, im Keller, in der Küche, im Tunnel, ist es ein Gefahrguteinsatz oder werden wir zu einer technischen Hilfeleistung gerufen, weil jemand in einem Unfallfahrzeug eingeklemmt wurde? Wir versuchen daher, unsere Einsatzarten zu strukturieren. Wir lehren und wissen, wie wir die verschiedenen Einsatzarten angehen. Damit decken wir standardisiert sehr viel ab.

Wenn Einsätze vom Ablauf oder den Belastungen sehr herausfordernd waren, dann sprechen wir danach drüber. Es geht dabei einerseits um die Frage, was wir besser hätten machen können im Sinne von Best Practices. Was können wir daraus für künftige Abläufe in Einsätzen lernen?

Auf der anderen Seite wollen wir einen Raum schaffen, um über besondere Belastungen zu reden. Wir geben die Möglichkeit, darüber zu sprechen, wer etwas wie aufgenommen hat. Insbesondere wenn Menschen betroffen sind oder der Einsatz große Parallelen zur eigenen Lebenssituation hat, kann das für den Einzelnen sehr belastend sein. Beispielsweise wenn ein Kamerad, der junger Familienvater ist, mit dem Tod eines Kindes im Einsatz konfrontiert war. Darüber können wir in der Einsatznachbesprechung reden und im Bedarfsfall auch weitere Hilfe für den Umgang mit diesen Belastungen organisieren.

Frage: Ist Kameradschaft bei Ihnen in der Feuerwehr wichtig wegen der besonderen Gefährdungslage für Ihre Mitarbeiter?

Adrian Röhrle: Nein, es ist das absolute gegenseitige Vertrauen, das man braucht in diesem Beruf oder auch im Ehrenamt. Wir können unsere Aufgaben immer nur im Team erledigen, das geht alleine definitiv nicht. Ich muss mich darauf verlassen können, dass mein Kamerad seine Aufgaben erledigt und seine Leistung erbringt. Und dieses Vertrauen muss ich gegenüber allen Kameraden haben, ansonsten funktioniert das nicht bei uns. Bei uns ist es immer Teamwork, es sind immer mindestens zwei Einsatzkräfte im Einsatz.

Frage: Wie sieht Führung im Einsatz aus?

Adrian Röhrle: Im Einsatz gebe ich als Einsatzleiter kaum Befehle, ich nutze häufiger das Instrument des Auftrags. Ein Befehl besteht aus den Elementen: Einheit, Auftrag, Mittel, Ziel und Weg. Wenn ich einen klaren Befehl erteile, dann kann die Einsatzkraft nicht mehr davon abweichen, dann gibt es keinen Spielraum mehr.

Wenn ich hingegen als Einsatzleiter einen Auftrag erteile, dann haben die Einsatzkräfte vor Ort einen Spielraum: Welches Gerät nehme ich? Gehe ich nur von außen an den Brand oder in einer Zangenbewegung? Gehe ich mit einem oder mit zwei Trupps vor? Die konkrete Ausführung liegt dann in der Verantwortung desjenigen, der vor Ort die Abschnittsleitung hat. Er hat dann viele Varianten, wie er den Auftrag umsetzen kann, entsprechend der konkreten Situation vor Ort.

Frage: Bei ihren Einsätzen ist dann aber viel standardisiert.

Adrian Röhrle: Ja, diese Standards gibt es. Bei einem ausgedehnten Küchenbrand beispielsweise versuchen wir in der Regeln einen Zangenangriff von außen wie von innen, damit wir möglichst schnell vorankommen. Bei einem Hochhausbrand versuchen wir, die Menschen in den Wohnungen zu lassen und schnellstens das Feuer zu löschen. Bei einem Feuer im Tunnel versuchen wir auch, zuerst schnell das Feuer zu löschen und Rauch zu vermeiden. Das sind Standards, die wir auch so trainieren. Aber die Einsatzleitung muss trotzdem vor Ort entscheiden, was zuerst gemacht wird, dann laufen die Standards ab. Bei einem Brand in einem Krankenhaus muss ich fragen: Muss ich evakuieren? Geht Menschenrettung vor Brandbekämpfung? Sind diese Entscheidungen getroffen, dann laufen Standards ab.

Frage: Wie trainiert man dann diese großen Einsätze und diese schwierigen Entscheidungssituationen? Sie können ja nicht großflächig Häuser in Brand setzen?

Adrian Röhrle: Wir machen zum Beispiel regelmäßig Planspiele. Wir haben auf Märklin H0-Platten unterschiedliche kleine Wohneinheiten mit Straßen gebaut, auf denen wir beispielsweise die Anfahrt und die Anstellflächen für die Einsatzfahrzeuge trainieren können. Da sollten wenig Fehler bei der Aufstellfläche passieren, so dass alle Einsatzfahrzeuge auch wirklich optimal eingesetzt werden können. Und da beim Brand unter Stress oft falsche Entscheidungen getroffen werden, müssen diese Standards trainiert und automatisiert werden. Diese Einsatztaktik trainieren wir mit den hauptamtlichen, aber auch mit den ehrenamtlichen Führungskräften: Situationen analysieren und Entscheidungen treffen.

Frage: Was soll neben der Einsatztaktik noch fehlerfrei ablaufen?

Adrian Röhrle: Da gibt es eine große Bandbreite: Der Einsatz der Technik, das korrekte Aufsetzen der Atemschutzmaske, die Wahl eines Funkkanals etc. Und das trainieren wir natürlich auch, fortlaufend.

Frage: Gibt es ein Spannungsfeld zwischen „Vorgesetzter sein“ und „Kamerad sein“?

Adrian Röhrle: Das ist tatsächlich eine Gratwanderung. Kamerad sein heißt für mich, jemanden, der ein Problem hat, auch mal aufzufangen, mitzutragen, aber als Führungskraft später wieder zu fordern und zu fördern. Wenn beispielsweise eine hauptamtliche Einsatzkraft hier durch einen familiären Pflegefall vorübergehend viel organisieren und erledigen muss, dann habe ich die Möglichkeit, für ihn vorübergehend in der Dienstplangestaltung Freiräume zu schaffen. Aber die Arbeitszeit muss später wieder nachgeholt werden.

Neben den rein organisatorischen Möglichkeiten kann man als Vorgesetzter manchmal auch bei inhaltlichen Themen kameradschaftlich miteinander umgehen. Es heißt für mich daher auch, den Mitarbeitern wieder Chancen zu geben, wenn Fehler passiert sind. Wichtig ist es, rote Linien aufzuzeigen und Leitplanken klar zu setzen, an denen sich die Mitarbeiter orientieren können.

Frage: Ist es in der Feuerwehr schwierig, Führungsnachwuchs zu finden?

Adrian Röhrle: Es ist schwierig, geeigneten Führungsnachwuchs zu bekommen. Manche wären sicher für die Führungsverantwortung geeignet, wollen aber die Verantwortung nicht übernehmen. Aber wenn sich jemand nicht oder nur bis zu einer bestimmten Ebene Führungsverantwortung übernehmen will, dann haben gibt es immer noch einige Chancen, sich in verschiedenen Bereichen zu spezialisieren.

Frage: Welche Anforderungen haben Sie an Führungskräfte?

Adrian Röhrle: Die Anforderungen teilen sich im ersten Teil in den fachlichen und den menschlichen Aspekt. Das Fachliche kann man nahezu jedem vermitteln, der Interesse und ein Grundverständnis hat. Der Umgang mit Menschen liegt nicht jedem. Dieser Umgang ist auch schwer messbar. Für mich ist es das Gesamtbild des Menschen, wie er sich anderen gegenüber gibt.

Und dann gibt es noch einen dritten Aspekt: Wie kommt jemand mit dem Entscheiden unter Unsicherheit klar? Wir müssen oft im Einsatz innerhalb kurzer Zeit grundlegende Entscheidungen treffen. Das ist komplett anders als nach reichlicher Recherche und Überlegung die Entscheidung zu treffen, welches Löschfahrzeug gekauft wird. Da kann ich mich ausführlich informieren, Angebote studieren, Schulungen besuchen, in Ruhe vergleichen usw. Das kann ich im Einsatz nicht. Und das liegt manchen nicht, da fühlen sich die Betroffenen unwohl. Aber es ist ein wesentlicher Teil des Führens im Einsatz. Im Einsatz muss ich entscheiden, auch wenn ich nicht weiß, ob Gefahrstoffe im Haus sind, das Haus einsturzgefährdet ist, Menschen im Haus sind etc. Im Einsatz muss ich entscheiden. Nichts ist schlimmer, als keine Entscheidung zu treffen.

Frage: Wo sehen Sie die Motivationsgründe bei Ihren Einsatzkräften?

Adrian Röhrle: Die Motivationsgründe sind aus meiner Sicht zweigeteilt. Feuerwehr hat einen starken Bezug zur Technik. Wir haben sehr viele Geräte auf unseren Fahrzeugen; Technik, die fasziniert. Und zum anderen ist das Arbeiten bei der Feuerwehr sinnstiftend.

Unsere Kameradinnen und Kameraden bringen zu Beginn ihrer Tätigkeit eine große Motivation mit. Die Kunst des Führens ist es, diese Motivation aufrecht zu erhalten. Das ist vor allem im Ehrenamt ein wichtiger Aspekt. Diese Einsatzkräfte trainieren viele Stunden im Jahr, sind aber oftmals über das Jahr gesehen nur wenige Stunden im Einsatz. Da kann die Motivation kippen. Hier sind die Führungskräfte gefragt, diese Mitglieder weiter zu begeistern.

Sehr geehrter Herr Röhrle, vielen Dank für dieses interessante Gespräch und den Einblick in die Führungsaufgaben bei der Feuerwehr.