„Ich kann nicht un­nah­bar in mei­ner Burg thro­nen und als graue Emi­nenz gnä­dig emp­fan­gen“

Podcast mit Friederike Wagner

Friederike Wagner ist als Dekanin des Kirchenbezirks Crailsheim Chefin von 23 Pfarrerinnen und Pfarrern. Zudem führt sie das Evangelische Jugendwerk Crailsheim. Sie ist Vorgesetzte in der Psychologischen Beratungsstelle und der Evangelischen Familienbildungsstätte. Mit Rupert Bardens und Achim Weiand spricht sie über die Balance von Werten und Führung, die Rolle als ältestes Kind in einer Familie und warum ein schlechter Führungsstil in der Kirche im Frühmittelalter lebensgefährlich sein konnte.

Interviewserie: Führung: Wir reden mit.
Juli 2022

In­ter­view mit Frie­de­ri­ke Wag­ner

Frage: Frau Wagner, wie lange führen Sie schon Mitarbeiter?

Friederike Wagner: In Crailsheim führe ich als Dekanin seit fünf Jahren rund 40 Mitarbeiter unmittelbar. In Summe haben wir etwas mehr als 200 Mitarbeiter im Kirchenbezirk. Als Älteste von sechs Kindern habe ich schon früh Aufgaben übernommen, die ein Einstieg in Führung waren – auch wenn sich meine Geschwister natürlich nicht als meine Mitarbeiter verstanden haben.

Frage: Was lernt man als Älteste von sechs Kindern zum Thema „Führung“?

Friederike Wagner: Man lernt, dass man „schuld“ ist, wenn etwas schief geht. Wenn die Kleinen Unsinn machten, wurde von der Ältesten erwartet, dass sie dies verhinderten. Und man lernt, welche Fehler man machen kann, wenn man zu bestimmend ist und andere nicht gleichberechtigt behandelt.

Frage: Führung muss oft den Konflikt ausbalancieren zwischen Kontrolle durch die Führungskraft und Freiheit der Mitarbeitenden. Es gibt die Aussage, dass Kreativität nicht entstehen kann, wenn man zu stark führt. Sehen Sie das ähnlich in der Kirche?

Friederike Wagner: Das sehe ich auch so, zumal Pfarrer einen kreativen Beruf haben. Es wäre fatal, wenn ich denen permanent reinreden würde. Wenn aber ein Problem auftritt, bin ich gefragt. Dann brauchen sie jemanden, der hinter ihnen steht.

Frage: Was unterscheidet Ihrer Meinung nach Führung in der Kirche von Führung in Unternehmen?

Friederike Wagner: Zum einen haben wir nicht nur hauptamtliche Mitarbeiter, sondern sehr viele Ehrenamtliche. Zum anderen haben wir eine flache Hierarchie. Und letztendlich müssen wir beim Thema Kirche schnell auf Werte zu sprechen kommen. Vom Evangelium her haben wir den Anspruch, dass Barmherzigkeit eine große Rolle spielt. Wir nehmen Rücksicht auf persönliche Problemlagen. Aber wir müssen auch schauen, dass der Laden läuft. Ich kann nicht endlos Geduld haben, wenn jemand aufgrund persönlicher Probleme nicht leistungsfähig ist und andere darunter leiden müssen. Das empfinde ich manchmal als einen sehr schwierigen Balanceakt. Das macht Führung manchmal schwierig.

Frage: Wo haben Sie Führung gelernt?

Friederike Wagner: Führung habe ich als erstes von meiner Mutter gelernt, einer Hausfrau im besten Sinn. Sie formte die Kultur in unserem Haushalt mit neun Leuten. Wenn beispielsweise auf jedem Tisch Blumen stehen, dann prägt das die Kultur eines Hauses. Gäste und Besucher waren immer willkommen und wurden nie abgewiesen. Es gab feste Termine. So sind zu den Mahlzeiten immer alle zusammengekommen. Ein guter Rhythmus von Gemeinsam-Sein, Arbeit und Ruhe war das Ergebnis dieser guten Führung.

Frage: Gab es noch andere Vorbilder?

Friederike Wagner: In unserem Nachbarort war die Äbtissin eines Zisterzienserinnenklosters eine Persönlichkeit, mit der ich mich identifizierte. Sie hatte den geistlichen Background und führte die anderen Damen mit einer großen Freundlichkeit, Selbstverständlichkeit und Konsequenz. Dabei hatte sie stets im Blick, was die Damen brauchten und was der Konvent aus wirtschaftlicher Sicht benötigte.
Entscheidend war sicher auch, dass mir jemand schon früh Führung zugetraut hat. Ich durfte sonntags den Kindergottesdienst übernehmen. In diesem saßen auch meine Geschwister, die manchmal schwieriger zu führen waren als die anderen Dorfkinder. Ich lernte, vorne zu stehen und etwas für eine Gruppe von Menschen zu gestalten, damit am Ende etwas Sinnvolles dabei rauskommt. Der Kindergottesdienst war der Einstieg in die Führung.

Frage: Das war Ihr Einstieg in Führung. Spielt „Führung“ in der Ausbildung der Pfarrer eine Rolle?

Friederike Wagner: In meinem Studium hat Führung keine Rolle gespielt. Aber jeder, der im Beruf anfing, musste sofort führen, beispielsweise seine Mitarbeiter oder als Vorsitzender im Kirchengemeinderat. Wenn man Glück hatte, hatte man einen guten Ausbildungspfarrer, der einem etwas vermittelte. Ich bin erst durch die weltweiten Kongresse der Willow Creek Community Church zum Thema „Führung in der Kirche“ auf das Thema aufmerksam geworden. In den Veranstaltungen wurde beispielsweise thematisiert, welche Begleitung Mitarbeiter benötigen, damit aus begeisterten Anfängern kompetente Mitarbeiter werden.

Frage: Sie haben vorhin die Blumen auf dem Tisch angesprochen, die die Kultur in Ihrer Familie prägten. In der Literatur ist zu lesen, dass Unternehmenskultur Chefsache ist. Welche Instrumente nutzen Sie, um eine Kultur zu etablieren, die Ihren Vorstellungen von Zusammenarbeit und Führung entspricht?

Friederike Wagner: Für mich ist es wichtig, gut im Kontakt zu sein. Alle, auch die Gemeindemitglieder, sollen mich kennen. Deswegen habe ich beispielsweise im ersten Jahr in allen Gemeinden gepredigt. Ein weiterer Punkt ist, dass man mich stören darf, wenn jemand ein wichtiges Anliegen hat. Ich will erreichbar sein. Alle, für die ich verantwortlich bin, wissen, dass sie sich jederzeit an mich wenden können.
Ein gesundes Leben gehört ebenso dazu. Ich habe beispielsweise eingeführt, dass es bei Besprechungen nicht nur Butterbrezeln und Süßes, sondern auch Obst gibt. Auch gemeinsame sportliche Aktivitäten wie die Teilnahme am Sparkassenlauf 2017 mit 96 Teilnehmern im gleichen lila Shirt gehören für mich zur Unternehmenskultur. Der regelmäßige Austausch in Form von Besprechungen ist ein weiteres Instrument. Ich habe beispielsweise die Zahl der Besprechungen mit den Pfarrern etwas erhöht.

Frage: Hat sich im Laufe der Jahre Führung in der Kirche verändert?

Friederike Wagner: Führung, wie sie früher vielfach praktiziert wurde, funktioniert heute nicht mehr. Ich kann nicht unnahbar in meiner Burg thronen und als graue Eminenz gnädig empfangen. Aber Führung auf Augenhöhe ist meiner Meinung nach auch kein richtiger Weg. Als Vorbereitung auf diese Position habe ich bei einer Priorin eines Klosters hospitiert. Dort gilt der Grundsatz: Der Abt wohnt und schläft nicht bei den Mönchen. Es muss klar sein, wo Leitung stattfindet. Dass Führung nahbarer sein muss als früher, ist klar.

Frage: Was sind Ihre Führungsaufgaben, die Sie – neben all den externen Aufgaben der Zusammenarbeit mit Kommunen etc. – nach innen, in die Kirche hinein, wahrnehmen?

Friederike Wagner: Ich möchte eine gute Personalpolitik zu machen. Für vakante Stellen versuche ich gute Leute zu bekommen. Die richtigen Leute für die richtigen Stellen zu finden – das ist eine ganz wichtige Aufgabe. Nach der Stellenbesetzung ist es mir wichtig, die Mitarbeiter am Anfang eng zu begleiten, sie dann aber auch frei gehen zu lassen. Dazu gehören aber auch die strukturellen Fragen. Sie kennen die Entwicklung der Mitgliederzahlen in den Kirchen. Daraus ergibt sich die Frage, wie Dekanate oder Gemeinden fusionieren können oder müssen. Ich will, dass die Kirche in Crailsheim gut aufgestellt ist. Das ist die wichtigste Führungsaufgabe.

Frage: Veränderungen managen ist somit eine wichtige Führungsaufgabe. Was ist dabei für Sie wichtig?

Friederike Wagner: Zunächst muss man eine Vorstellung haben, wo es hingehen soll. Dann ist es für mich wichtig zu hören, welche Ängste bestehen. Wenn man über die Ängste der Menschen hinweggeht, landen Veränderungen im Chaos. Ich habe dies zuletzt erlebt, als wir Strukturen in Gemeinden verändert haben. Der entscheidende Durchbruch gelang erst, nachdem die Kirchengemeinderäte ihre Ängste offenbaren konnten und ihnen zugehört wurde. Die emotionale Seite von Veränderungsprozessen wird oft unterschätzt. Ich erzähle auch gerne noch, wie ich mich auf Führung vorbereitet habe.

Frage: Sehr gerne.

Friederike Wagner: Ich habe bei mehreren Unternehmen in der freien Wirtschaft hospitiert und mir angeschaut, wie Personal geführt wird. Ich war auch 14 Tage bei der Priorin eines Zisterzienserinnenklosters. Sie hat mir immer etwas zu Lesen gegeben – auch die Biografie von Benedikt von Nursia. Darin fand ich einen Aspekt besonders spannend: Als Benedikt von Nursia seine erste Führungsaufgabe übernommen hatte – ein Kloster zu leiten –, hat er es so schlecht gemacht, dass die Mönche versucht haben, ihn zu vergiften. Er wurde dann abgezogen und erst bei der zweiten Leitung eines Klosters hat er es dann richtig gemacht. Dass auch jemand, der unangreifbar als tolle Gestalt in der Kirchengeschichte dasteht, mit seiner ersten Führungsaufgabe gescheitert ist und Führung auch erst einmal lernen musste, das fand ich superspannend.

Frage: Gehört zu einer Führungskraft, insbesondere im kirchlichen Kontext, das Thema „Demut“?

Friederike Wagner: Ich finde, das ist einer der wichtigsten Aspekte. Demut steht auch auf meiner Liste der Grundwerte. So wie ich momentan arbeite, ist es leider nicht besonders demütig, sondern eher Hybris. Von morgens vor 7 Uhr bis abends nach 10 Uhr, oftmals ohne Pause ist, das ist Hybris.

Frage: Gibt es im Dekanat oder auf anderer kirchlicher Ebene regelmäßiges Führungsfeedback?

Friederike Wagner: Nein, regelmäßiges Führungsfeedback gibt es nicht. Wir führen mit unseren Mitarbeitern Personalentwicklungsgespräche, die auch der Rückmeldung an die Führungskraft dienen sollen. Aber es bleibt offen, ob mir Menschen ein ehrliches Feedback geben. Unsere Landeskirche hat einen Versuch mit einem 360-Grad-Feedback gemacht, an dem drei andere Führungskräfte und ich teilgenommen haben. Es gab dann noch eine zweite Runde. Aber zwischenzeitlich ist das Thema in der Versenkung verschwunden.

Frage: Was gehört aus Ihrer Sicht zur Selbstführung – auch um eine gute Führungskraft zu sein?

Friederike Wagner: Für mich persönlich gehört ein ritualisierter Tagesbeginn dazu. Ich trinke ein Glas Wasser und lese die Zeitung. Ich trinke Kaffee und lese die Bibel. Nach einem kleinen Fitnessprogramm „bete ich den Tag durch“, das heißt ich mache eine kleine Morgenandacht für mich. Dabei gehe ich die Aufgaben durch, die auf mich warten – auch die schwierigen Begegnungen. Eine halbe Stunde Bewegung an der frischen Luft gehört für mich auch dazu. Auf den Samstag, den Tag, an dem ich am wenigsten zu tun habe, freue ich mich. Den Sonntag liebe ich. Morgens finden ein oder zwei Gottesdienste statt. Und das dritte Gebot „Du sollst den Feiertag heiligen“ bewahrt mich sonntags vor der Versuchung, an diesem Tag zu arbeiten.

Frau Wagner, vielen Dank für das Gespräch.