„Eine Führungskraft muss die Mitarbeiter mitnehmen.“
Interview mit Dietmar Winkler
Mit Dietmar Winkler als Betriebsratsvorsitzendem der BWF Group in Offingen haben wir eine ganz andere Perspektive auf Führung: die Perspektive derjenigen, die geführt werden. Das Interview führten Rupert Bardens und Achim Weiand.
Interviewserie: Führung: Wir reden mit.
August 2022
Interview mit Dietmar Winkler
Frage: Sehr geehrter Herr Winkler, könnten Sie sich bitte zu Beginn selbst vorstellen?
Dietmar Winkler: Mein Name ist Dietmar Winkler, ich bin 56 Jahre alt und Betriebsratsvorsitzender der BWF Group hier in Offingen. Ich bin seit sechs Wahl-Perioden Betriebsratsvorsitzender und bewerbe mich momentan zur siebten Wahl-Periode zum Betriebsrat. Das heißt, seit 24 Jahren bin ich Vorsitzender dieses Betriebsrates.
Ich bin seit 40 Jahren in dieser Firma. Ich habe hier den Beruf des Industriemechanikers erlernt und war 17 Jahre in der Instandhaltung. Mit 32 Jahren bin ich ins Betriebsratsbüro gewechselt, weil damals niemand mehr Betriebsratsarbeit machen wollte.
Frage: Was ist für Sie als Betriebsrat “ gute“ Führung, Herr Winkler?
Dietmar Winkler: Gute Führung ist für mich, wenn der Vorgesetzte seine Mitarbeiter mit ins Spiel holt. Früher hatten wir kleine „Diktatoren“, die haben gesagt „Das wird jetzt so gemacht.“ Das geht heute nicht mehr. Gute Führung bedeutet, dass der Mitarbeiter mitgenommen wird, dass seine Ideen und seine Vorschläge aufgegriffen werden - und unter Umständen auch umgesetzt werden. Dazu gehört dann aber auch, dass die Führungskraft anschließend sagt, dass es die gute Idee des Mitarbeiters gewesen ist und sich nicht mit fremden Federn schmückt. Das haben wir leider auch schon gehabt. Die Führungskraft sollte dann sagen, dass es ein Mitarbeiter oder ein Team war, in dem die gute Idee ausgearbeitet worden ist. Das motiviert die Mitarbeiter.
Wir haben leider eine Führungskraft entlassen müssen, weil sie eben gar nicht auf ihre Mitarbeiter eingegangen ist. Sie ist morgens in ihren Arbeitsbereich gekommen, hat niemanden gegrüßt, sondern ist herumgelaufen nach dem Motto „Ich bin der Boss und ihr seid meine Lakaien.“ So geht es halt nicht. Und da muss der Betriebsrat sich darum kümmern.
Frage: Wenn Sie als Betriebsrat erfahren, dass Mitarbeiter mit einer Führungskraft ein Problem haben, dann kümmern sie sich um das Problem.
Dietmar Winkler: Ja, das ist unsere Aufgabe. Wir schauen dann schon sehr genau hin, ob das nur ein Problem zwischen zwei Personen ist oder ob das eine ganze Arbeitsgruppe ist, mit der die Führungskraft nicht zurechtkommt. Wir schauen dann, ob es auch stimmt, was die Mitarbeiter beschreiben. Wenn es dann ein gravierendes Problem ist, dann ist die Geschäftsführung relativ schnell bereit, mit uns über diese Führungskraft zu diskutieren.
Frage: Gab es schon mal den Fall, dass Sie versucht haben, gemeinsam mit der Geschäftsführung die Führungskraft zu entwickeln oder „den Kurs zu korrigieren“?
Dietmar Winkler: Natürlich. Zuerst wird selbstverständlich versucht, die Führungskraft zu entwickeln. Wir haben Kurse wie beispielsweise „Situatives Führen“ oder zum Umgang mit Mitarbeitern. Denn meistens sind diese Führungskräfte fachlich sehr gut und man möchte sie gar nicht verlieren – sie können allerdings nicht mit Mitarbeitern umgehen. So finden etwa Personalgespräche statt, bei denen die Führungskräfte diktieren, was gemacht wird. Sie nehmen selbst Veränderungen an Maschinen vor und nehmen die Mitarbeiter nicht mit ins Boot - und dem Mitarbeiter steht es irgendwann hier.
Frage: Das passt dann zu der alten Weisheit: „Der beste Konstrukteur ist nicht unbedingt eine gute Konstruktions-Führungskraft.“ Das Fachliche ist es nicht alleine, was man als Führungskraft benötigt.
Dietmar Winkler: Ja, das hatten wir bei uns in der Firma schon zwei Mal. Wir hatten zwei Einser-Schüler, die bei uns dann Schichtführer geworden sind. Aber sie konnten nicht mit den Mitarbeitern ihrer Schichten umgehen. Die Mitarbeiter haben sich andauernd über sie beschwert. Wir haben versucht, sie in dieser Führungsposition zu unterstützen, aber sie sind nach einer Zeit wieder in ihren alten Schemata zurückgefallen. Das ging dann nicht mehr. Wir haben ihnen dann die Mitarbeiterführung weggenommen und auf Stellen gesetzt, bei denen sie ihre fachlichen Top-Qualitäten als Einzelkämpfer einbringen konnten.
Frage: Sie sind als Betriebsrat ja auch gut mit anderen Unternehmen vernetzt. Kommt so etwas auch in anderen Unternehmen vor?
Dietmar Winkler: Ich denke, dass es das überall gibt. Wir haben hier einen Unternehmensbereichsleiter – wenn wir mehr solcher Manager hätten, dann gäbe es kaum Probleme. Mit dem kann man reden, er hört zu, er geht auf den Betriebsrat zu, er nimmt die Ängste der Mitarbeiter ernst und setzt gemeinsame Beschlüsse auch direkt um. Ein Beispiel: Wir hatten einen Auszubildenden mit einem 1er-Abschluss. Er wollte nach der Ausbildung unbedingt einen Studiengang studieren, den wir aber vom Unternehmen aus nicht anbieten. Die Konsequenz wäre gewesen, dass dieser Top-Mann gegangen wäre. Ich bin dann zu diesem Unternehmensbereichsleiter, habe ihm das Problem geschildert und er hat dann eine Lösung gefunden.
Frage: Sie haben erwähnt, dass es bei einer Führungskraft wichtig ist, dass sie mit den Mitarbeitern zusammenarbeitet und dass Kommunikation keine Einbahnstraße ist. Gibt es darüber hinaus bestimmte gesellschaftliche Ziele oder ethische Ansprüche, von denen Sie sagen „Das erwarte ich von einer Führungskraft heute.“?
Dietmar Winkler: Die Ansprüche an Führungskräfte sind gestiegen. Ein Beispiel: Wir haben mittlerweile einen hohen Ausländeranteil unter unseren Mitarbeitern, und da muss man den richtigen Tonfall treffen. Bei den türkischen Mitarbeitern gibt es beispielsweise Erdogan- und Gülen-Anhänger und diese Konflikte werden in die Firma mit hineingetragen – damit muss eine Führungskraft umgehen können.
Schwierig wird es für männliche Führungskräfte, die eine reine „Frauen-Mannschaft“ führen, da es dort viele Eifersüchteleien gibt. Führung ist definitiv nicht einfach wegen des breiten Aufgabenspektrums. Und im zwischenmenschlichen Bereich wird es immer interessant sein. Man muss wesentlich sensibler mit den Mitarbeitern umgehen als früher. Man kann nicht mehr alle Mitarbeiter über einen Kamm scheren. Man muss individuell auf die Mitarbeiter eingehen und einwirken. Und es gibt nichts Schlimmeres, als den Mitarbeiter immer nur zu „drücken“, das motiviert nicht und mindert die Leistung.
Frage: Corona hat die Arbeit verändert, denken wir nur an den gestiegenen Anteil an Home-Office-Arbeitsplätzen. Hat das aus Ihrer Sicht auch einen Einfluss auf Führung gehabt?
Dietmar Winkler: Am Anfang hieß es oft, dass man Home-Office nicht will, weil dann jeder tun kann, was er will. Die Arbeit würde liegen bleiben. Das Gegenteil hat sich herausgestellt: Die Arbeit wurde erledigt und es wurde teilweise sogar mehr geleistet als vorher. Bei vielen Mitarbeitern ist Home-Office nach anfänglicher Skepsis sehr positiv aufgenommen worden. Dies betrifft allerdings nur die Mitarbeiter in der Verwaltung, die Mitarbeiter in der Produktion sind von der Nutzung des Home-Office ausgeschlossen.
Man hat als Führungskraft allerdings keinen direkten und unmittelbaren Einfluss mehr auf Mitarbeiter, weil die Führungskräfte auch oft im Home-Office sind. Derzeit sind wegen der Pandemie in der Verwaltung immer nur maximal 50 Prozent der Mitarbeiter am Standort, die sich im 2-Wochen-Rhythmus mit der Präsenz im Werk abwechseln.
Frage: Gab es hier Handlungsbedarf für den Betriebsrat?
Dietmar Winkler: Viele Frauen waren sehr froh, zu Hause zu bleiben zu können, weil die Kinder wegen der Schulschließungen zu Hause betreut werden mussten. Das wollten wir auch weiterhin anbieten, da bestand nach der ersten Corona-Welle ein großer Bedarf. Deshalb haben wir auch eine Betriebsvereinbarung abgeschlossen, die einen prinzipiellen Anspruch auf zwei Tage Home-Office pro Arbeitswoche festlegt – dies allerdings nur im Angestelltenbereich und nicht im gewerblichen Bereich. Viele Frauen mit kleinen Kindern sind sehr froh, dass sie jetzt diese zwei Tage Home-Office pro Woche garantiert haben.
Frage: Wird sich auch die Arbeit des Betriebsrats verändern?
Dietmar Winkler: Ja klar, früher bin ich bei einer Frage direkt hingegangen zum Kollegen in das Büro nebenan und habe nachgefragt, jetzt sitzt der nicht mehr dort, sondern ist im Home-Office. Es wird aufwändiger, man muss Termine vereinbaren, um dann ein virtuelles Treffen zu machen. Auch die Sitzungen des Betriebsrats-Kollegiums werden aufwändiger in der Vorbereitung und weniger „präsent“.
Frage: Ich denke auch an Betriebsversammlungen, früher war der größte Teil der Mitarbeiter dort einfach anwesend. Wie sieht das bei Ihnen aus unter Corona-Bedingungen?
Dietmar Winkler: Das fehlt mir momentan auch. Gerade vor den Betriebsratswahlen waren Betriebsversammlungen enorm wichtig. Man konnte dort als Betriebsrat normaler Weise die letzten vier Jahre Revue passieren lassen und den Mitarbeitern erzählen, was in der letzten Periode erreicht wurde. Diese direkte Kommunikation zu den Mitarbeitern fehlt uns als Betriebsrat jetzt. Ich habe festgestellt, dass es bei uns im Landkreis keine einzige Firma gibt, die eine Betriebsversammlung in Präsenz abhält. Für Mitarbeiter sind die Betriebsversammlungen aber auch wichtig, sie wollen ja wissen, was bei uns im Unternehmen geschieht. Wir hatten im letzten Jahr den Wechsel in der Unternehmensspitze von der 4. zur 5. Inhabergeneration. Da will jeder wissen: Wie geht es weiter?
Frage: Sie haben eine neue Inhabergeneration. Gibt es dann auch andere Erwartungen an Führung?
Dietmar Winkler: Klar! Ich bin seit 40 Jahren im Unternehmen und es ist „meine“ dritte Generation an Unternehmern, die ich erlebe. Das Unternehmen ist 125 Jahre alt, insgesamt sind es fünf Generationen an Unternehmern. Ich habe noch einen Unternehmer erlebt, der abends durch das Werk gelaufen ist und geschaut hat, wo noch Licht brennt, das man ausmachen sollte. Sparen war ganz wichtig. Mein Vater, der auch hier im Werk gearbeitet hatte, erzählte mir, dass man früher zeitweise selbst Kohle mitbringen musste ins Werk zum Heizen des Arbeitsplatzes. So haben sich die Zeiten geändert.
Ein inhabergeführtes Unternehmen kann man nicht vergleichen mit börsennotierten Unternehmen, bei denen die Manager 5-Jahres-Verträge haben und ausschließlich darauf schauen, dass die Zahlen stimmen. Wir haben hier schon so etwas wie eine Wertegemeinschaft. Man kann auch mal krank werden, ohne direkt eine Kündigung zu erhalten. Das wird in anderen Firmen deutlich anders gehandhabt; wenn man dort länger als sechs Wochen krank ist, dann wird man gekündigt.
Frage: Was bedeutet „Wertegesellschaft“ in der Firma konkret?
Dietmar Winkler: Der Unternehmer kennt die Menschen in seinem eigenen Unternehmen noch, er mischt sich positiv in Sachen ein und er lebt selbst noch in der Gemeinde und bekommt dadurch sehr viel mit. Gerade bei Krankheiten sieht er den Menschen und reagiert anders als angestellte Manager. Bei Verrentungen verabschiedet der Chef den Mitarbeiter noch persönlich, auch bei runden Geburtstagen kommt er persönlich vorbei. Es gibt eine sehr direkte Kommunikation. Vielleicht kann man es so zusammenfassen: Der Mensch zählt noch etwas.
Frage: Und wie läuft die Zusammenarbeit zwischen Ihnen als Betriebsratsvorsitzendem und dem Unternehmer ab?
Dietmar Winkler: Wir sind hier am Standort rund 700 Mitarbeiter. Ich habe direkten Zugang zum Inhaber als oberstem Chef. Wenn etwas nicht funktioniert, dann kann ich direkt auf ihn zugehen. Und was unsere Zusammenarbeit angeht, da sagte er einmal zu mir: „Herr Winkler, wer, wenn nicht Sie, soll mir denn sagen, wenn unten etwas nicht läuft?“ Der Inhaber und ich als Betriebsratsvorsitzender sind zwar nicht immer einer Meinung, aber wir kommen immer auf einen Kompromiss, mit dem die Mitarbeiter und das Unternehmen leben können.
Frage: Lassen Sie uns noch kurz über Führung im Betriebsrat reden. Wie läuft dort Führung ab?
Dietmar Winkler: Zur Betriebsratswahl lassen sich prinzipiell Mitarbeiter aufstellen, die alle eine eigene Meinung haben. Und einen Betriebsrats-„Herrscher“ kann es in einem Betriebsrats-Kollegium nicht geben. Wir haben in unserem Betriebsrat insgesamt 13 Mitglieder, davon sind zwei Mitglieder freigestellt von der Arbeit und machen ausschließlich Betriebsrats-Arbeit. Das bin ich als Betriebsratsvorsitzender und mein Stellvertreter. Die Betriebsräte kommen aus den vier Unternehmensbereichen, die hier am Standort vertreten sind. Jeder kann und soll im Betriebsrats-Kollegium seine Meinung sagen. Und wenn wir über einen Sachverhalt abstimmen müssen, dann wird demokratisch abgestimmt.
Frage: Wie findet dann Führung durch Sie als Vorsitzenden des Betriebsrates statt?
Dietmar Winkler: Wir halten uns an die Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes und haben zudem eine Satzung des Betriebsrates. Dort ist beschrieben, was der Vorsitzende des Betriebsrates alleine entscheiden kann und was im Gremium entschieden werden muss. Und im Gremium gilt: Jeder wurde gewählt, jeder hat genau ein Stimmrecht, und ich als Vorsitzender des Betriebsrates habe kein doppeltes Stimmrecht. Als Vorsitzender muss man dann eben für seine inhaltliche Position werben. Mein Vorteil ist, dass ich viel Erfahrung habe bei 24 Jahren Tätigkeit als Betriebsratsvorsitzender. Zudem bin ich noch aktiv in der Berufsgenossenschaft ETEM (gesetzliche Unfallversicherung für die Branchen Energie, Textil, Elektro und Medienerzeugnisse) und ehrenamtlicher Beisitzer am Landesarbeitsgericht. Diese Erfahrung nimmt einem keiner.
Frage: Welchen Tipp haben Sie für Nachwuchsführungskräfte in Bezug auf Führung?
Dietmar Winkler: Man solle immer die Mitarbeiter ernst nehmen und „mitnehmen“ bei Veränderungen. Ein Vorgesetzter weiß ja auch nicht immer alles. Ein Beispiel: Ich habe in diesem Unternehmen als Betriebsschlosser angefangen und kannte die Maschinen sehr gut, die ich betreut habe. Manche Maschinenbauer haben studiert, wissen aber nicht, wie der Mitarbeiter die Wartung und den Ölwechsel macht. Von daher sollten sie bei der Konstruktion einer neuen Maschine den Mitarbeiter fragen, wie es am besten gemacht würde. Also noch einmal: „Die Mitarbeiter mit ihren Erfahrungen mitnehmen“.
Das Unternehmen
Die BWF Group mit Sitz in Offingen ist ein Hersteller in den Bereichen textile Filtermedien, technische Nadelfilze, Wollfilze und hochwertige Kunststoffprodukte. Sie ist ein inhabergeführtes Familienunternehmen in fünfter Generation. Die BWF Group hat rund 1800 Mitarbeitern an 16 Produktionsstandorten weltweit.