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Die gan­ze Welt auf ei­nem Bild­schirm: das vir­tu­el­le Aus­tausch­se­mes­ter an der HNU

07.06.2021, Dia­lo­ge :

Not macht erfinderisch: Weil die Corona-Pandemie im vergangenen Jahr die Pläne für den internationalen Austausch durchkreuzte, tüftelte die HNU ein Modell für den digitalen Auslandsaufenthalt aus. Von Zuhause aus in der Ferne studieren – eine Notlösung oder ein Konzept mit Zukunft?
Wir haben uns über den virtuellen Austausch ausgetauscht: Lilia Briel, Mitarbeiterin im International Office (IO) der HNU, und Soukaina Errajae aus Marokko, virtuelle Austauschstudentin im Wintersemester 2020/21, berichten aus zwei Blickwinkeln über ihre Erfahrungen mit dem digitalen Auslandssemester.

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Frühjahr 2020: Krisenmanagement und Krisenkommunikation im International Office der HNU

Als im Frühjahr 2020 die große weite Welt plötzlich auf einen kleinen Bildschirm zusammenschrumpfte, bedeutete das für manche Studierende neben Campusabstinenz und Vorlesungen per Zoom auch: Aus der Traum vom geplanten Auslandssemester. „Im März waren gerade die neuen Incomings an der HNU angekommen“, erinnert sich Lilia Briel, „und wir mussten die Orientierungswochen abbrechen. Für uns bedeutete das erst mal eine Menge Krisenmanagement und natürlich auch Krisenkommunikation für unsere ausländischen Studierenden – die lokale Berichterstattung, die sich zu diesem Zeitpunkt täglich mit neuen Informationen überschlagen hat, war ja fast ausschließlich auf Deutsch“.

Frühzeitig beschloss die Hochschulleitung, dass im Wintersemester 2020/21 kein regulärer Studierendenaustausch stattfinden wird, weder incoming noch outgoing. „Am Anfang dachte ich, oh, diese Entscheidung kommt aber früh. Vielleicht wird es gegen Winter ja doch wieder besser?“, sagt die IO-Mitarbeiterin. Tatsächlich habe sich das dann aber als die richtige Entscheidung erwiesen – und gab dem International Office (öffnet neues Fenster) an der HNU die nötige Planungssicherheit, um Aufenthalte rechtzeitig wieder rückabzuwickeln. „So konnten wir vermeiden, dass Studierende schon in finanzielle Vorleistung gegangen sind, sei es in Sachen Wohnheim oder Visa, und auf den Kosten sitzengeblieben sind“. Damit stand der internationale Austausch erst einmal still – bis auf wenige Ausnahme wie etwa die Double-Degree-Studierenden der HNU-Partnerhochschule in Oulu (Finnland). „Da sind dann vier Studierende angereist“, erzählt Lilia Briel. „Aber in Europa war das auch noch etwas einfacher als beim Rest der Welt“.

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Für den internationalen Gedanken: den Auslandsaufenthalt ins Virtuelle übersetzen

 „Corona sollte nicht dazu führen, dass sich alle abschotten, dass gar kein interkultureller Dialog mehr stattfinden kann. Und auch den HNU-Studierenden, die vielleicht nicht ins Ausland konnten, wollten wir durch internationale Studierendengruppen Auslandserfahrungen daheim ermöglichen" , sagt Lilia Briel. Gesagt, getan: Die IO-Mitarbeiterinnen stürzten sich in die Planungen für ein virtuelles Sommersemester. „Wir waren der Meinung, dass ein guter Teil des Nutzens, den Auslandserfahrungen bringen, auch digital erzielt werden kann: also etwa der Erwerb digitaler Kompetenzen und das grenzüberschreitende Zusammenarbeiten, auch dann, wenn man nicht am selben Ort ist“, erklärt Lilia Briel, die sich zur interkulturellen Trainerin fortgebildet hat. Per Zoom klärte das IO mit einigen HNU-Partnerhochschulen im Vorfeld, ob grundsätzlich Interesse an digitalen Formaten besteht. „Kurioserweise war das etwas, was wir vorher nie gemacht haben – also, sich einfach mal mit Partnerhochschulen in aller Welt zu Online-Meetings zu treffen“, sagt sie. Ein kleiner Nebeneffekt des Krisenmanagements: die Auslotung neuer Kommunikationswege – viele Hochschulen setzen sich erst durch und dank Corona mit digitalen Tools wie Zoom auseinander. 

IO-Mitarbeiterin Lilia Briel (öffnet Vergrößerung des Bildes)
Lilia Briel

Lilia Briel (öffnet neues Fenster) ist Mitarbeiterin im International Office der HNU. Sie arbeitet als Koordinatorin für europäische Austauschstudierende und als Projektkoordinatorin "Internationalisierung 2.0"

Wir freuen uns darauf, wenn sich der Campus wieder mit Leben und Studierenden aus aller Welt füllt. Einige Erfahrungen und vor allem die persönlichen Begegnungen gehen in der virtuellen Welt eben doch verloren.

Lilia Briel

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Marketing-Herausforderung:  Alleinstellungsmerkmale über regionale Gegebenheiten hinaus bewerben

Die erste und vielleicht größte Herausforderung bei der Planung des neuen Konzepts: Wie bewirbt man die digitale Ausgabe eines Formats, das eigentlich vom Austausch vor Ort lebt? „Wir können bei potentiellen Incomings normalerweise immer viel mit lokalen Gegebenheiten werben“, erläutert Lilia Briel, „Neu-Ulm ist eine kleine, sichere Stadt in einer wirtschaftsstarken Region, man findet alles, die Wege sind kurz, die Mieten sind bezahlbar, die HNU hat einen tollen, modernen Campus – es gibt einfach sehr viel physische Argumente, mit denen wir punkten können“. All das, was die Hochschule und den Standort so attraktiv macht, lässt sich bei einem virtuellen Austausch auf den ersten Blick nun eben nicht so leicht ins Feld führen. „Unsere Alleinstellungsmerkmale so zu übersetzen, dass sie in einem digitalen Kontext argumentativ tragen – das war gar nicht so einfach“, sagt die IO-Mitarbeiterin.

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Am Strand den HNU-Vorlesungen folgen? Digitaler Austausch bietet viel Flexibilität

Stärker in den Fokus rückte deshalb vor allem der starke Praxisbezug der Vorlesungen, die Praxiserfahrung der HNU-Professorinnen und -professoren und die individuelle Betreuung in Kleingruppen. Unter dem Motto „Boost your CV“ wurden die Benefits beworben, die ein digitaler Auslandaufenthalt auch für den Lebenslauf mit sich bringen kann: digitale Kompetenzen, die Fähigkeit, unter ungewohnten Umständen zu arbeiten, interkulturelle Kompetenzen und Sprachkenntnisse, internationale Kontakte – und Flexibilität: „Das war für uns ein wichtiger Punkt im Marketing, den Studierenden zu vermitteln, dass der digitale Aufenthalt ihnen auch Gestaltungsfreiheit ermöglicht – auch in ihrem Heimatland müssen sie nicht in ihrem Studierendenwohnheim sitzen, sondern können vielleicht am Strand den HNU-Vorlesungen folgen“. Und: „Es war quasi das Angebot einer Last-Minute-Möglichkeit, trotz Corona internationale Erfahrungen zu sammeln“.

Ei­ne di­gi­ta­le Rei­se von Ma­rok­ko an die HNU: Ei­ne Aus­tausch­stu­den­tin be­rich­tet

[1] Why did you decide to do a virtual exchange semester – and why at the HNU? What were your initial plans before COVID19?

Before Covid-19, I was planning to go to Germany for a master’s program after my graduation in my home country. Unfortunately, my graduation has got delayed for one semester because of the pandemic, and I had a lot of free time at home. Therefore, I started to search for programs for the following year and accidently came across the virtual semester offered by the HNU, and I am so glad that I took part in it.

[3] After all, intercultural experiences tend to be tied to physical exchanges – what kind of virtual experiences have you been able to have here?

What I regret the most is that I didn’t have much contact with my classmates. However, in the German course, we used to have some conversations to present ourselves and talk about our countries and cultural background. I think it was interesting and I loved that.

[5] What are your further plans after the exchange at the HNU in terms of international experience or activities?

I still have the plan to go to the Germany for a full master’s program.

[2] What did your everyday study life look like in the online exchange? How did you network and exchange ideas?

We used to have lectures in Zoom. The way professors explain their courses was clear, and it was comfortable for me as a student to receive the content of the course via that platform and to ask questions as well. We sometimes had internet problems, but the professors understood this and we had the possibility to contact them anytime in Moodle.

[4] How did you experience your exchange overall? What particularly stuck in your mind, what surprised you?

I am very satisfied of how my exchange semester went. The professors have respect for time. Also, they are so helping as they always respond to my questions and they welcome every participation. I would like to thank all the teachers for their efforts.
For me this experience didn’t give me the impression of distance learning since I was in contact with all my teachers at all times.

Soukaina Errajae nahm im Wintersemester 2020/21 von Marokko aus am digitalen Aufenthalt an der HNU teil. Sie berichtet im Interview, welche Erfahrungen sie mit dem Aufenthalt gemacht hat.

Porträtfoto von Soukaina Errajae
Soukaina Errajae

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Zeitverschiebung, Zeitdruck und digitales Socializing: Umdenken für den digitalen Kontext

Im Normalbetrieb hat das IO ungefähr ein halbes Jahr Vorlauf für die Planung eines Auslandssemesters. Die Studierenden bewerben sich zwischen März und Mai für das Wintersemester, ab Ende September beginnen die Orientierungswochen. Bereits im Februar werden die Kurse der HNU-Professorinnen und -Professoren abgefragt, die in den Kursplan für die internationalen Studierenden aufgenommen werden können. Das neue virtuelle Semester musste unter wesentlich stärkerem Zeitdruck ins Leben gerufen werden: Ab Juni 2020 stellten die Mitarbeiterinnen das neue Konzept auf die Beine, etablierten neue Prozesse und entwickelten einen angepassten Workflow für die Bewerbungsplattform. Dazu kam, dass das akademische Jahr in den Partnerländern teils anders getaktet und das Wintersemester früher terminiert ist – und dass es bei der Kursplanung natürlich auch die Zeitverschiebung zu bedenken gilt. „Wir haben dann direkt bei unseren Fakultäten mögliche Kurse abgefragt, bei den Partnern im August bekannt gemacht und im September war Bewerbungsschluss, mit Semesterstart am 5. Oktober“, erzählt Lilia Briel. „Da tauchten natürlich auch ganz pragmatische Fragen auf, etwa: Funktioniert unser Moodle-Zugang von überall aus auf der Welt? Gibt es Probleme, wenn man etwa von Kanada aus auf unser System zugreift? Aber es hat alles funktioniert. Die Technik hat mitgemacht!“. Nach Klärung der bürokratischen Hürden – vom Erasmus+ Learning Agreement über Krankenversicherung, Immatrikulation und Semesterbeitrag bis hin zum Thema Stipendien und Erasmus-Formalitäten – stand schließlich das Programm, in einer etwas abgespeckteren Version als üblich, denn: „Im Onlinekontext, das wissen wir alle, kann man kein so umfangreiches Programm fahren wie in Präsenz – die Teilnehmenden ermüden schneller, die Konzentration lässt früher nach“.

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Interkulturelle Kompetenzen lassen sich auch digital vermitteln

Eine der Aufgaben von Lilia Briel ist es, in interkulturellen Trainings den Austauschstudierenden der HNU interkulturelle Kompetenzen zu vermitteln und sie damit auch grundständig erst einmal dafür zu sensibilisieren, was Kultur eigentlich bedeutet. „Da geht es zum Beispiel darum, dass in Deutschland viel Wert auf Pünktlichkeit und Struktur gelegt wird. In Gruppenarbeiten neigen Deutsche auch eher dazu, direkt an die Aufgaben zu gehen („task-orientation“) – in vielen anderen Kulturen steht da erst einmal die persönliche Bindung im Vordergrund, damit überhaupt zusammen an etwas gearbeitet werden kann („relationship-orientation“)“. Vieles davon hat sie bereits in ein virtuelles Setting übertragen, um insbesondere die Dinge, die die Studierenden eben nicht vor Ort erleben können, trotzdem erfahrbar zu machen. Trotzdem sollte der regelmäßige Austausch zwischen der HNU und den Austauschstudierenden untereinander künftig noch intensiver verankert werden. „Ich habe nach der Orientierungsphase nur noch wenig von den Studierenden gehört und das teils auch als gutes Zeichen für einen reibungslosen Aufenthalt gewertet“, sagt Lilia Briel. „Aber für mich waren die Studierenden in diesem Semester wirklich so weit weg wie noch nie. Ich erkenne sie normalerweise an der HNU oder auf der Straße und sehe, ob es ihnen gut geht. Jetzt hatte ich weniger Feeling dafür, wie es ihnen geht“.

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Lieber digital als gar nicht? Alternativkonzept gerade auch für finanziell schwächere Studierende

Ihr Fazit zu den ersten virtuellen Auslandssemestern? „Es erschien mir im Vorfeld eher als Notlösung, als behelfsmäßige Alternative zu einem „echten“ Auslandsaufenthalt“, sagt Lilia Briel. „Wenn sowieso schon alles online ist, dachte ich, kann man ja genauso gut den Vorlesungen an der eigenen Hochschule folgen“. Im Rückblick aber, so sagt sie, hat sich diese Einstellung gewandelt. „Ich glaube, es ist sehr wichtig, sich zu überlegen, womit man dieses Format vergleicht. Das virtuelle Semester ist eine andere Art von internationaler Erfahrung, die man nicht mit dem normalen Austausch vergleichen sollte“. Zwei Punkte hebt Lilia Briel besonders hervor: Zum einen ermöglicht das digitale Format auch finanziell eingeschränkteren Partnerhochschulen und Studierenden Auslandserfahrungen. Zum anderen können solche digitalen Austauschformate eine softe Einführung in interkulturelle Erfahrungen darstellen. „Man kann sich dadurch etwas an das Thema Auslandserfahrung herantasten, hat nicht gleich den kompletten Kulturschock“. Inzwischen sieht sie das virtuelle Semester durchaus als ein potentielles zweites Standbein auch nach Corona. „Eine reine Übersetzung von analogen in virtuelle Angebote, wie wir es bisher gemacht haben, ist natürlich bedingt attraktiv. Langfristig würde ich da eher auf kleinere, in sich geschlossene Programme setzen, etwa auf Summer bzw. Winter Schools, temporär begrenzte Projekte oder Gastvorträge“.

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Ausblick

Für das Wintersemester 2021/22 ist erneut ein hybrides Austauschmodell geplant: Die HNU begrüßt sowohl virtuelle wie auch Austauschstudierende vor Ort.  Lilia Briel und ihre Kolleginnen werten das virtuelle Konzept insgesamt als wertvolle Erfahrung, eine wirkliche Alternative stellt er für sie aber nicht dar. Lilia Briel hofft, dass die internationalen Aktivitäten an der HNU in naher Zukunft wie gewohnt möglich sind – und sich auf dem Campus im Wileypark bald wieder Studierende aus aller Welt tummeln können.