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Ver­net­zung in der Kri­se

30.04.2020, Dia­lo­ge :

Welche Auswirkungen hat die Coronakrise auf das Gesundheitssystem – und umgekehrt? Wir haben mit Prof. Dr. Walter Swoboda, Forschungsprofessor an der Fakultät Gesundheitsmanagement der HNU, über die elektronische Patientenakte, medizinische Frühwarnsysteme sowie ethische und datenschutzrechtliche Fragestellungen gesprochen. Das wichtigste Stichwort dieses Gesprächs: die interinstitutionelle Vernetzung des Gesundheitssystems.

Ge­sprächs­part­ner 

Prof. Dr. Walter Swoboda ist Arzt und Diplom-Informatiker. Vor seiner Forschungsprofessur an der Fakultät Gesundheitsmanagement war er Leiter der Medizintechnik und IT am Universitätsklinikum München und IT-Leiter der Städtischen Klinikum München GmbH. 

Die Krise macht auch demütig: Wir sind im Grunde alle nur Gast.

Prof. Dr. Walter Swoboda

Prof. Dr. Walter Swoboda

Wer die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens und den Zusammenhang mit der derzeitigen Krise begreifen will, muss zunächst ein Stück in der Zeitgeschichte zurückgehen: 2004 tritt das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GMG) in Kraft – Hintergrund ist der Lipobay-Skandal* drei Jahre zuvor, der die Notwendigkeit elektronischer Medikationskontrollinstanzen auf die Agenda setzt. Ein Ergebnis dieser Entwicklung, das wir alle seit 2011 kennen und in den Händen halten: Die elektronische Gesundheitskarte (eGK). Die Einführung der in diesem Gesetz vorgesehenen sogenannten Telematikinfrastruktur (TI)* zieht sich allerdings bis heute hin. Seit Januar dieses Jahres gilt das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG)*, das eine breite Nutzung digitaler Angebote und auch die vieldiskutierte elektronische Patientenakte (ePA) ermöglichen soll. Einiges ist im Bereich Telemedizin und eHealth bereits passiert – und doch gibt es noch viel zu tun, betont Swoboda. Die elektronische Gesundheitskarte erfüllt ihren eigentlichen Zweck in dieser Form noch nicht; eine breitere Einführung von Tools wie etwa Videosprechstunden scheitert häufig an der Kostenfrage. Insbesondere die wirklich flächendeckende Vernetzung aller Gesundheitsakteure ist zwar nicht mehr reine Zukunftsmusik, aber eben doch noch nicht umgesetzt.

Dem deutschen Gesundheitssystem fehlt die flächendeckende interinstitutionelle Vernetzung

„Im Grunde krankt unser ganzes Gesundheitssystem daran, dass wir zwar mittlerweile innerhalb der einzelnen Einrichtungen selbst halbwegs valide Informationssysteme haben. Was uns ins Deutschland aber völlig fehlt, ist die interinstitutionelle Vernetzung“, konstatiert Swoboda. Das heißt: Es mangelt an einem gebündelten Zugang zu Informationen über Patientenströme, Vorerkrankungen, Genesungsverläufe – und vor am Überblick über das große Ganze: „Dadurch haben wir viele, viele Einzelfälle, aber keinen großen Fall“, beanstandet der Mediziner. Als kontraproduktiv erweisen sich zudem bürokratische und formale Hürden: Auf die digitale Patientenakte beispielsweise haben zwar Ärzt*innen, nicht aber Pfleger*innen Zugriff – ohne Pflegekammer fehlt denen der dafür nötige Heilberufeausweis. Angesichts der so wichtigen Rolle von Pflegekräften sei das ein unhaltbarer Zustand, betont Swoboda.

COVID19 hat, so die Einschätzung Swobodas, die Schieflage aufgrund der verschleppten Digitalisierungsprozesse innerhalb des deutschen Gesundheitswesens nun noch einmal deutlich verschärft. Ein in den letzten Wochen breit diskutiertes Beispiel ist die nicht eindeutig bezifferte Kapazität an Intensivbetten in Deutschland, aber auch der fehlende Gesamtüberblick darüber, wann, wo und wie welche Patient*innen genau auf das Virus getestet wurde, ist problematisch. Sind solche elementaren Zahlen nämlich unklar, ist eine valide Behandlungsplanung kaum möglich. Haben Kliniken, Krankenhäuser, Pflegeheime und Arztpraxen hingegen gemeinsam Zugriff auf eine verlässliche und vollständige übergeordnete Datenlage, lassen sich Behandlungsprozesse effizienter koordinieren. Dieser Überblick kann mitunter (lebens-)entscheidend sein.

Li­po­bay-Skan­dal

2001 versterben weltweit 50 Menschen an Wechselwirkungen des cholesterinsenkenden Medikaments Lipobay mit anderen Präparaten. Der Pharmakonzern Bayer nimmt das Medikament vom Markt und wird mit Schadenersatzklagen in Millionenhöhe konfrontiert.

ge­ma­tik GmbH

Die gematik GmbH ist mit der Einführung und (Weiter-)Entwicklung der gesetzlich beschlossenen Digitalisierungsmaßnahmen im Gesundheitswesen betraut.

Te­le­ma­tik 

Telematik („Telekommunikation“ + „Informatik“) bezeichnet die Vernetzung unterschiedlicher IT-Systeme und deren Datenaustausch.

Te­le­ma­tik­in­fra­struk­tur (TI)

Die 2004 gesetzlich beschlossene Telematikinfrastruktur soll Akteure des Gesundheitssystems miteinander vernetzen und einen übergreifenden, verschlüsselten Informationsaustausch ermöglichen.

Ein konzertierter Datenzugriff kann akut und präventiv bei Pandemien helfen

Eine solche intelligente Vernetzung zahlt sich in akuten Notlagen also aus – kann sie denn auch als eine Art Frühwarnsystem dienen? Epi- und Pandemien, wie wir sie im Moment erleben, lassen sich kaum vorhersehen, stellt Swoboda klar. Doch es gibt Indikatoren, die, werden sie rechtzeitig erfasst, bestimmte Entwicklungen andeuten können. Bei der COVID19 spielt etwa der Indikator der erhöhten Temperatur eine wesentliche Rolle, einzelne Warnsysteme hatten diesen Faktor auch als Alarmsignal eingestuft. Werden solche Daten nun systematischer in allgemeinen Screenings erfasst, können sie gegebenenfalls frühzeitigeren Aufschluss über sich anbahnende Infektionswellen geben.

„Es gab immer große Epidemien, die die Menschheit teils auch erheblich dezimiert haben. Das sind normale Risiken, die der Mensch hat – aber das heißt nicht, dass man nicht mit modernen Methoden etwas dagegen tun kann und muss“, so Swoboda.

Warum brauchen auch diese modernen Methoden ihre Zeit und weshalb muss man mit einer längeren Zeitspanne rechnen, um COVID19 unter Kontrolle zu bringen? Ein Grund liegt im Prozess der Impfstoffentwicklung: Viren zirkulieren sowohl in ihrer natürlichen Form, dem sogenannten Wildtyp, als auch in mutierten Formen. Im Labor muss nun zwischen solchen Wildtypenstämmen und mutierten COVID19-Stämmen unterschieden werden. Diese Trennung sei extrem zeitaufwändig, erläutert Swoboda: „Ich kann mir unter diesen Umständen nicht vorstellen, dass der Impfstoff noch in diesem Jahr kommt“. Dabei sind ansteckende Viren oder Bakterien sind meist nicht besonders tödlich – sie müssen sich ihre Übertragungswege erhalten. Mit zunehmender Bevölkerungsdichte allerdings verschiebt sich das Verhältnis zwischen Infektiosität und Letalität stärker in Richtung Letalität, erklärt Swoboda. Hier müsse es letztlich bessere Frühwarnsysteme geben.

Von einer interinstitutionellen Datenvernetzung profitiert das Gesundheitssystem also nicht nur in der ad-hoc-Behandlung, sondern auch in der Prävention. „Das sind natürlich Unmengen an Daten, die regelmäßig gescannt werden müssen – hier ist KI gefragt“, ergänzt der Forschungsprofessor, der selbst nicht nur approbierter Arzt, sondern auch Informatiker ist.

Die verzögerte Einführung liege dabei weniger an konkreten Akteuren wie beispielsweise der gematik GmbH* – es seien vor allem grundsätzliche Bedenken, die eine konzertierte Umsetzung erschwerten. Kann die Coronakrise nun möglicherweise den nötigen Impuls liefern, die Digitalisierung des Gesundheitswesens konstruktiver voranzubringen? Muss sie sogar, meint Swoboda: „Das sind strukturelle Innovationen, die längst überfällig sind. Es wird Zeit, dass angesichts der aktuellen Krise Nägel mit Köpfen gemacht werden“. Er ist zuversichtlich, dass auch seit langem diskutierte ethische Fragestellungen nun wieder mehr in den Vordergrund treten.  

Bei datenschutzrechtlichen und ethischen Grundfragen gilt die Maxime: Das letzte Wort haben die Patient*innen

Als Dreh- und Angelpunkt der Debatten erweist sich dabei immer wieder der Datenschutz, etwa bei der digitalen Patientenakte. Kritisch sei etwa, dass Patient*innen gegenwärtig nicht selbst entscheiden könne, welche Daten aus der eigenen Akte gelöscht werde. „Letztlich überwiegen allerdings die Vorteile die Nachteile“, meint Swoboda, der sich seit Jahren mit medizinischen IT-Systemen auseinandersetzt. Was in diesem Zusammenhang nämlich oft übersehen werde: Ist der Zugriff auf Patientendaten nicht interinstitutionell und gesetzlich organisiert, springt die Industrie ein. Die Blutdruckwerte von Diabetiker*innen beispielsweise, die via Smartphone-App dokumentiert werde, liegen letztlich beim Hersteller – Hausärzt*innen haben darauf nur den indirekten Zugriff durch ihre Patient*innen und müssen ihre Behandlung auf Basis nicht selbst erhobener Messdaten ausrichten. Swoboda sieht in der Privatisierung von Daten, deren Verwendung seitens der Industrie zudem nicht immer klar kommuniziert werden („Wie weit geht das? Lernt die Insulinpumpe irgendwann, Glückshormone auszustoßen?“), eine Entwicklung, der man sich bewusst sein und die man verhindern müsse – und das gehe, so Swoboda, eben nur über die Einführung der elektronischen Patientenakte.
Auch die Frage nach dem letzten Willen und Selbstbestimmung erhält aktuell neues Gewicht. Was geschieht etwa, wenn eine an COVID19 erkrankte Person die lebensnotwendige Beatmung ablehnt? Im Moment fehlen hier entsprechende Instrumente, den eigenen Willen im akuten Fall kurzfristig sicherzustellen.

All diese ethischen Dilemmata lassen sich letztlich auf eine Maxime abstellen, so Swoboda: „Es ist schwierig – und im Grunde doch ganz einfach: Das letzte Wort muss immer der Patient oder die Patientin haben“.

Wei­ter­füh­ren­de Li­te­ra­tur 

Swoboda, Walter (2017): Informationsmanagement im Gesundheitswesen, UTB Verlag München.
Swoboda, Walter; Würfel, Alexander (2016): Prozessmanagement im Krankenhaus. In: Herausforderung Krankenhausmanagement (ed. Hellmann, Wolfgang). Hogrefe, Bern, S. 155-162.