Die Gesprächspartner
Prof. Dr. Patrick Da-Cruz ist Professor für Betriebswirtschaftslehre und Gesundheitsmanagement an der Fakultät Gesundheitsmanagement der Hochschule Neu-Ulm (HNU) sowie wissenschaftlicher Leiter des MBA-Programms Führung und Management im Gesundheitswesen.
Vor seiner Tätigkeit an der HNU war Herr Da-Cruz bei namhaften Strategieberatungen im Bereich Pharma / Healthcare sowie in Führungsfunktionen in Unternehmen der Gesundheitswirtschaft im In- und Ausland tätig.

Dr. Florian Brandt beschäftigt sich als Health Innovation Manager bei der IKK Südwest mit der Entwicklung, Umsetzung und Bewertung neuartiger Ansätze zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung. Dies umfasst auch die Förderung der Einführung und Verbreitung digitaler Technologien im deutschen Gesundheitsmarkt. Zusätzlich zu seiner beruflichen Tätigkeit forscht und publiziert er zu aktuellen gesundheitswissenschaftlichen Themen. Zuvor absolvierte er ein Studium der Wirtschaftswissenschaften und eine Promotion in theoretischer Medizin an der Universität des Saarlandes.

Dr. Elmar Waldschmitt absolvierte eine Ausbildung zum Industriekaufmann in der Konsumgüterindustrie sowie ein Studium der Volkswirtschaftslehre in Marburg und Waterloo/Kanada mit anschließender Promotion. Seit 2007 ist er im Gesundheitswesen bei der BIG direkt gesund tätig, derzeit als Leiter der Stabsstelle Unternehmensentwicklung sowie seit 2017 als Geschäftsführer des Healthy Hub. Zuvor war er u.a. im Deutschen Bundestag und bei Die Familienunternehmer e. V. tätig.

Welche Rolle spielt das Thema Innovationsmanagement in der GKV derzeit und welche Ziele werden verfolgt?
Wir verstehen Innovationen als neuartige Herangehensweisen, um bestehende Probleme zu lösen, oder prägnanter: Innovationen sind Problemlöser. Die Gesundheitsversorgung in der GKV kämpft leider mit vielfachen Problemen, wie der täglichen Medienberichterstattung entnommen werden kann: Krankenhausschließungen, Arzneimittellieferengpässe, lange Wartezeiten auf einen Arztbesuche, steigende Krankenkassenbeiträge und eine zunehmende Verbreitung chronischer Erkrankungen sind nur einige prominente Beispiele. Versorgungsinnovationen – also Innovationen, die auf eine Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung abzielen – können dabei helfen, solche Probleme zu lösen. Insofern spielt das Innovationsmanagement – zu verstehen als die systematische Identifikation, Erprobung und Skalierung vielversprechender Innovationen – eine zunehmend wichtige Rolle in der GKV. Mit Hilfe des Innovationsmanagements verfolgen wir Krankenkassen stets das Ziel, die Gesundheitsversorgung qualitativ besser und gleichzeitig kostengünstiger zu machen. Dadurch wollen wir die Zukunftsfähigkeit unserer Krankenkasse innerhalb der GKV, aber auch die Zukunftsfähigkeit des GKV-Systems in seiner Gesamtheit sicherstellen.
Welche Komponenten umfasst das Innovationsmanagement in der GKV?
Die wesentlichen Komponenten des Innovationsmanagements sind das Identifizieren, das Erproben und das Skalieren vielversprechender Versorgungsinnovationen. Die operative Umsetzung dieser Komponenten erfolgt durch einen bunten Blumenstrauß an Aktivitäten:
Die Identifikation geeigneter Innovationen umfasst Recherche- und Analysearbeiten, die Teilnahme an einschlägigen Veranstaltungen sowie die Kommunikation und Vernetzung mit anderen Akteuren aus dem Umfeld des Innovationsmanagements – beispielsweise mit Start-ups, Hochschulen, Unternehmen aus dem Bereich der Pharmazie, Biotechnologie und Medizintechnik, zukunftsorientierten Versorgern oder anderen Krankenkassen. Schließlich müssen wir erst einmal auf vielversprechende Versorgungsinnovationen aufmerksam werden.
Sobald wir eine Innovation identifiziert haben, deren Anbieter uns plausibel darlegen konnte, dass die Versorgung unserer Versicherten durch deren Anwendung qualitativ besser und gleichzeitig kostengünstiger wird, geht’s in die Erprobungsphase. Diese basiert in aller Regel auf einer Sondervereinbarung mit dem Anbieter der Innovation und gegebenenfalls beteiligten Versorgern (z. B. Ärztinnen und Ärzte oder Kliniken) – dem sogenannten Selektivvertrag. Im Rahmen des Selektivvertrags sagen wir eine über die reguläre Versorgung hinausgehende Finanzierung zu und bringen die Innovation so ins GKV-System. Begleitend nutzen wir uns vorliegende Diagnose- und Abrechnungsdaten oder befragen unsere Versicherten, um zu evaluieren, ob das von uns verfolgte Ziel hierdurch auch tatsächlich erreicht wird.
Wenn die Innovation gut performt, unterstützen wir bei deren Verbreitung in der GKV, indem wir mit Partnern aus unserem Netzwerk verknüpfen und proaktiv an einer gemeinsamen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit mitwirken.
Mit unserem Healthy Hub haben wir das Innovationsmanagement in einem Joint Venture der BIG direkt gesund, der IKK Südwest, der mhplus Krankenkasse und der SBK Siemens-Betriebskrankenkasse systematisiert. Der Healthy Hub ist gewissermaßen das GKV-Äquivalent zum VOX-Format „Die Höhle der Löwen“ – mit einem wesentlichen Unterschied: Wir kaufen keine Unternehmensanteile, sondern finanzieren Versorgungsinnovationen für unsere Versicherten per Selektivvertrag.
In Ihrem Buch „Innovating Healthcare – Wie Start-ups gemeinsam mit Krankenkassen im Gesundheitsmarkt durchstarten“ (erschienen im medhochzwei Verlag) entwickeln Sie einen Health Innovation Canvas. Wie kann dieser strukturierte Ansatz für das Innovationsmanagement genutzt werden?
Unser Health Innovation Canvas basiert auf dem vermutlich bekannteren Business Model Canvas. Hierbei handelt es sich um ein Framework zur strukturierten Geschäftsmodellentwicklung, das sich seit seiner Einführung großer Beliebtheit erfreut. Allerdings ist das Business Model Canvas ein allgemeines Tool, das die Marktbesonderheiten der GKV sowie die Interessen der relevanten Akteure, insbesondere der Krankenkassen, überhaupt nicht berücksichtigt. Hier setzt unser spezifischeres Health Innovation Canvas an, welches wir speziell für die Vorbereitung von Projektpartnerschaften zwischen Healthcare Innovatoren und gesetzlichen Krankenkassen entwickelt haben. Im Kern steht der Versorgungsnutzen. Ein Geschäftsmodell kann im Gesundheitswesen nur dann nachhaltig erfolgreich sein, wenn es wahrnehmbare Mehrwerte bzw. eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten – in der Regel sind das Patientinnen und Patienten, Ärztinnen und Ärzte sowie Krankenkassen – schafft. Ferner beschäftigt sich das Health Innovation Canvas damit, welche Akteure bei der Bereitstellung von Versorgungsinnovationen in welcher Art und Weise zusammenwirken und welches Versorgungsproblem hierdurch wie gelöst wird. Auch werden Key-Performance-Indicators (KPI) definiert, der regulatorische Rahmen von SGB V & Co. betrachtet, herausgearbeitet, welche Kosten die angebotene Versorgungsinnovation für die Krankenkasse verursacht und wie diese Kosten durch Einspareffekte überkompensiert werden können (z. B. durch vermiedene Folgeerkrankungen oder Komplikationen infolge einer innovationsbedingt optimierten Versorgung). Good to know: Realisierte Einspareffekte bei gleichzeitiger Qualitätssteigerung sind der zentrale KPI, an dem sich ein bei einer Krankenkasse beschäftigter Versorgungsmanager messen lassen muss – quasi das Äquivalent zu den Verkaufszahlen eines Vertriebsmitarbeitenden.
Welche Rolle spielen gesetzliche Krankenkassen derzeit in Start-up-Ökosystemen?
Start-ups bringen mit neuartigen Geschäftsmodellen frischen Wind ins Gesundheitswesen und geben wichtige Impulse für notwendige Weiterentwicklungsprozesse. Die Ansätze sind mannigfaltig: KI-basierte Diagnosesysteme, digitalisierte Therapien oder Coachings für chronisch Erkrankte sind nur einige Beispiele für vielfältige Geschäftsmodelle, die auf Versorgungsinnovationen basieren. Am Ende muss jedes Geschäftsmodell zu nachhaltigen Umsätzen im Zielmarkt führen respektive finanziell tragfähig sein. Im GKV-Markt kommen hier die Krankenkassen ins Spiel und spätestens dann, wenn systemseitig kein regulärer Marktzugangsprozess wie beispielsweise das AMNOG-Verfahren für neue Arzneimittel existiert, ist eine Zusammenarbeit mit einer Krankenkasse zur Finanzierung des eigenen Geschäftsmodells oft existentiell. Ein Selektivvertrag kann unter solchen Umständen eine relevante oder gar die einzige Markteintrittsoption sein. Mit unserem Healthy Hub und dem dahinterliegenden Versprechen „Wir bringen Euch in die GKV“ betreiben wir seit 2018 ein Format, das sich im Startup-Ökosystem etabliert hat und dort erfreulicherweise großen Zuspruch findet.
Sollten die gesetzlichen Krankenkassen zukünftig ihre Aktivitäten im Bereich Innovationsmanagement ausbauen?
Jedes Unternehmen, das mit seinem Geschäftsmodell langfristig erfolgreich sein will, sollte einen Fokus aufs Innovationsmanagement legen. Der Produktlebenszyklus, ein bekanntes Konzept aus der Managementlehre, veranschaulicht das sehr nachdrücklich. Jedes Produkt durchläuft nach der Einführung verschiedene Phasen mit variierendem Beitrag zum Unternehmenserfolg. Letztendlich gelangt jedes Produkt über kurz oder lang in die Degenerationsphase. Betrachten wir das Geschäftsmodell eines Unternehmens nun als Summe der von ihm angebotenen Produkte, so wird schnell deutlich, wie wichtig es ist, sich systematisch mit Innovationen zu beschäftigen. Kann ein Unternehmen in einer sich wandelnden Unternehmensumwelt nicht erfolgreich auf ständig neue Herausforderungen reagieren oder diese idealerweise sogar mit innovativen Ansätzen antizipieren, ist das Geschäftsmodell langfristig nicht tragfähig. Das gilt auch für Krankenkassen, die sich im Wettbewerb durch einen möglichst geringen Zusatzbeitrag, eine hohe Servicequalität und natürlich ein innovatives Portfolio an Versorgungsangeboten behaupten müssen. Insofern und auch in Anbetracht der zu lösenden Probleme beantworten wir die Frage mit einem klaren „Ja“: Krankenkassen sollten ihre Aktivitäten im Bereich des Innovationsmanagements unbedingt ausbauen!
Vielen Dank für das Gespräch!