Die Gesprächspartner
Prof. Dr. Patrick Da-Cruz ist Professor für Betriebswirtschaftslehre und Gesundheitsmanagement an der Fakultät Gesundheitsmanagement der Hochschule Neu-Ulm (HNU) sowie wissenschaftlicher Leiter des MBA-Programms Führung und Management im Gesundheitswesen.
Vor seiner Tätigkeit an der HNU war Herr Da-Cruz bei namhaften Strategieberatungen im Bereich Pharma / Healthcare sowie in Führungsfunktionen in Unternehmen der Gesundheitswirtschaft im In- und Ausland tätig.
Hanno Wolfram war mehr als 20 Jahre in der Pharmaindustrie tätig, u.a. im Vertrieb, als Personalleiter, Geschäftsführer Schweiz und Area Manager Europa. Auf Basis dieser Erfahrung gründete er die Beratungsagentur Innov8 und begleitet hier seit 25 Jahren Beratungs-, Veränderungs- und Implementierungsprojekte in zahlreichen Ländern. Er ist Buchautor, Coach und Dozent an der HNU.
Was sind und wie funktionieren Abnehmspritzen wie Wegovy oder Ozempic?
Hanno Wolfram: Wegovy und Ozempic sind Handelsnamen verschreibungspflichtiger Arzneimittel. Beide Medikamente enthalten den gleichen Wirkstoff und werden von Novo-Nordisk hergestellt und vertrieben. Sie sind die bekanntesten Handelsnamen einer länger werdenden Liste sogenannter GLP-1-Agonisten. Noch ist nicht ausreichend untersucht, wie genau diese Substanzen funktionieren. Die klinischen Effekte und eine vorteilhafte Nebenwirkungsquote waren allerdings ausreichend, um diese neue Generation von Medikamenten zur Anwendung freizugeben. Alle bisherigen Medikamente dieser Klasse werden injiziert, meist im Wochenabstand. Verschiedene Wirkungen führen zu einer Normalisierung krankhafter Insulinwerte. Es gibt ebenfalls Hinweise auf die Normalisierung des Lipidstoffwechsels, des Blutdrucks und vor allem die deutliche Reduktion des Hungergefühls. Letzteres hat diese Medikamentenklasse derart beflügelt, dass die Hersteller bisher zu keinem Zeitpunkt in der Lage waren, die weltweite Nachfrage zu erfüllen. Die Verwendung als Lifestyle-Drug mit dem Ziel der einfachen Gewichtsabnahme führt zu regelmäßigen Lieferengpässen. Die offiziellen Zulassungen betreffen in der Regel aber nur die Anwendung bei Diabetes Typ 2.
Wie ist das Marktpotenzial derartiger Arzneimittel aus Ihrer Sicht einzuschätzen?
Hanno Wolfram: Die aktuelle Zahl der diagnostizierten Typ-2 Diabetiker in Deutschland beträgt etwa 10 % (8,2 Millionen) der Bevölkerung. Nimmt man den BMI als Maßstab, dann sind die Übergewichtigen in Deutschland und den USA inzwischen die Mehrheit der Bevölkerung. Die Ursache von Übergewicht liegt in den weitaus meisten Fällen an der Diskrepanz zwischen Nahrungsaufnahme und Energieverbrauch. Aus Übergewicht entsteht bei einer entsprechenden Disposition häufig auch Diabetes, was sowohl den Teufelskreis von Krankheiten und gleichermaßen die Umsatzchancen hunger-modulierender Arzneimitteln verdeutlicht.
Nachdem der Umsatz von Novo Nordisk allein mit Semaglutid in 2023 etwa 20 Milliarden Euro betrug, werden Produktionskapazitäten derzeit mit Milliardenaufwand und in verschiedenen Ländern wesentlich ausgeweitet. Eine dieser neuen Produktionsstätten wird aktuell in Mainz für den Betrieb vorbereitet. Ein weiterer Player auf diesem Markt ist Lilly Pharma mit seinem Nachfolge-GLP-1 Agonisten Tirzepatid (Mounjaro®). Diesem Medikament werden bei aktuellen Preisen ebenfalls mehr als 20 Milliarden Euro als Umsatzpotenzial zugetraut.
Welche Entwicklung erwarten Sie bei der Erstattung von Abnehmspritzen für die Kostenträger?
Hanno Wolfram: Hier gibt es aus meiner Sicht zwei unterschiedliche Szenarien.
- Szenario 1: Bei Nicht-Diabetikerinnen und -Diabetikern kostet die Monatstherapie ca. 300 Euro und muss privat bezahlt werden, solange es nur um das Abnehmen geht. Bei fehlender Umstellung der Lebensweise könnten diese Medikamente zur lebenslangen Dauertherapie werden, denn die Erfahrung zeigt, dass sich bei Therapieende das Gewicht der Patientinnen und Patienten in aller Regel wieder erhöht. Dieses Szenario nimmt an, dass die Preisgestaltung der Unternehmen auch in Zukunft in der aktuellen Höhe Bestand haben wird. In diesem Fall denke ich, dass die Kostenübernahme durch Krankenkassen auf die Anwendung bei der offiziellen Indikation Diabetes Typ 2 mit Adipositas beschränkt bleibt. Die Erstattung zur Gewichtsreduktion bei einem BMI oberhalb von 28 bis 30 würde bei diesen Preisen aus meiner Sicht alle Möglichkeiten der gesetzlichen Krankenversicherung sprengen.
- Szenario 2 kann sein, dass die Unternehmen die Preise wesentlich reduzieren, wie wir es auch bei Biologika erlebt haben. Wir erinnern uns an die Preisreduktion des Herstellers von Adalimumab am Tag des Patentablaufs um 80 %. Der Umsatz des Unternehmens wurde dadurch nur sehr kurz negativ beeinflusst. Die Mengenausweitung hat die Preisreduktion mehr als kompensiert. Es konnten deutlich mehr Patientinnen und Patienten zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung behandelt und von den Wettbewerbern ferngehalten werden. Sobald es also einen Hersteller gibt, der ausreichend mutig ist und dieses Beispiel auch bei dieser Medikamentenklasse für sich entdeckt, ist es jedenfalls vorstellbar, dass auch die Adipositas in die Erstattungsfähigkeit übernommen wird. Damit würde eine riesige Mengenausweitung möglich. Da heute nicht einfach Preise reduziert, sondern lediglich Rabatte zugestanden werden müssen, erfordert ein solches Verfahren zwar einiges an Mut auf Herstellerseite, wäre aber vorstellbar.
Welche Konsequenzen kann eine weitreichende Nutzung der Abnehmspritzen für die Pharma- und Medizinprodukteindustrie haben?
Hanno Wolfram: Medikamente in diesem Segment können zu Lifestyle-Drugs werden. Sie können eine große Zahl von Erkrankungen verhindern und das Lebensgefühl steigern. Sobald sich Patientinnen und Patienten in der Lage sehen, diese monatliche Ausgabe leisten zu können, benötigt es deutlich geringerer persönlicher Anstrengungen oder gar Veränderungen eigener Verhaltensmuster. Die meisten Gewichtsreduktionen durch GLP-1 Agonisten bewegen sich oberhalb von 14 kg und können deutlich mehr betragen. Da bekannt ist, dass viele Erkrankungen durch Adipositas ausgelöst oder verstärkt und unterhalten werden, z. B. Diabetes und Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, könnten viele Arzneimittel anderer Couleur eingespart werden. Die Unternehmensberatung AT Kearney geht von einem Umsatzrisiko von bis zu 23% bis 2033 für deutsche Unternehmen aus, die im Gesundheitsbereich betroffen sein könnten. Da könnten auch Kliniken betroffen sein, z. B. durch eine Verringerung der Anzahl an Eingriffen, die einen Kniegelenkersatz beabsichtigen.
Die Möglichkeiten der Blutdruck- und Lipidsenkungen durch die GLP-1 Agonisten sind weitere Qualitäten, die bei zukünftigen Arzneimitteln dieser Klasse vielleicht noch deutlicher zu Tage treten werden. Theoretisch könnte es damit sein, dass Arzneimittelklasse dieser Klasse in der Tat Gamechanger werden. Sie können aber auch Beispiel werden, wo die Grenzen der Profitabilität für die Pharma-Unternehmen liegen und dass viele Erkrankungen durch eigene Verhaltensänderungen deutlich kostengünstiger vermieden oder positiv beeinflusst werden können. Viele Hausärztinnen und -ärzte sind allerdings glücklich über diese neuen Therapieoptionen, denn die Versorgung entsprechender Patientinnen und Patienten wird erheblich einfacher. Der Leidensdruck wird häufig weniger und das positive Lebensgefühl nimmt zu.
Vielen Dank für das Gespräch!