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HNU Health­ca­re Ma­nage­ment In­sights #10

12.03.2024, Dia­lo­ge :

In der Interviewserie befragt Prof. Dr. Patrick Da-Cruz wechselnde Expertinnen und Experten zu aktuellen Themen aus dem Gesundheitsbereich. In dieser Folge steht das Thema Pharmabeschaffung im Fokus – Gesprächspartner ist Dr. Florian C. Kleemann. 

Die Ge­sprächs­part­ner

Prof. Dr. Patrick Da-Cruz ist Professor für Betriebswirtschaftslehre und Gesundheitsmanagement an der Fakultät Gesundheitsmanagement der Hochschule Neu-Ulm (HNU) sowie wissenschaftlicher Leiter des MBA-Programms Führung und Management im Gesundheitswesen.
Vor seiner Tätigkeit an der HNU war Herr Da-Cruz bei namhaften Strategieberatungen im Bereich Pharma / Healthcare sowie in Führungsfunktionen in Unternehmen der Gesundheitswirtschaft im In- und Ausland tätig.

Prof. Dr. Patrick Da-Cruz

Prof. Dr. Florian C. Kleemann ist Professor für Supply Chain Management, insbesondere Einkauf & Beschaffung an der Hochschule München. Zudem koordiniert er dort den Master BWL „Digital Sustainable Procurement & Supply Management“, ein spezialisiertes Studienangebot für zukunftsorientierte Beschaffung. Daneben berät er unter anderem in der Healthcare- und Pharmaziebranche Unternehmen bei der zukunftsorientierten Einkaufs- und Strategieentwicklung. 

Prof. Dr. Florian C. Kleemann

Was sind die wesentlichen Herausforderungen in der Beschaffung?

Prof. Dr. Florian C. Kleemann: Die Beschaffung ist eine intern wie extern stark vernetzte Funktion, insbesondere als Schnittstelle zu den Beschaffungsmärkten. Insofern bekommt sie alle wesentlichen Schwankungen, Krisen etc. immer mit – wie z. B. Marktverwerfungen, Materialengpässe oder Unterbrechungen in logistischen Lieferwegen. Aktuelles Beispiel ist dabei die zunehmende Piraterie im Roten Meer, einem zentralen Schifffahrtsweg zwischen Asien und Europa.

Grundsätzlich ist die Aufgabe der Beschaffung die Versorgung des eigenen Unternehmens mit allem, was man nicht selbst herstellt, mit Ausnahme Kapital und Personal. Dabei besteht typischerweise ein Zielkonflikt von stabiler (qualitativer) Versorgung und möglichst günstigen Preisen bzw. Kosten. Mit steigendem Fremdbezug, auch als Outsourcing bekannt, erhöht sich dabei die Wichtigkeit der Lieferanten und deren Innovationen. Daraus ergibt sich zunehmend die An- und Herausforderung, auch Innovationsbeiträge zu generieren. Zusätzlich schwierig ist dabei jedoch, dass die Beschaffung in den meisten Unternehmen lange eine eher geringe Aufmerksamkeit erhalten halt. Mit den zunehmend komplexer werdenden Lieferketten steigt aber nun der Arbeitsaufwand – für dessen Bewältigung nun wiederum Ressourcen fehlen.

Die Beschaffung führt – teilweise auch in der Pharmaindustrie – oft ein Nischendasein. Hat sich hier durch die Corona-Pandemie und die geostrategischen Verwerfungen etwas geändert?

Prof. Dr. Florian C. Kleemann: Viel zu lange hat sich die Beschaffung in ihrer Rolle als „Kostenkiller“ sehr wohl gefühlt – es mag ja auch motivierend sein, nach einer intensiven Verhandlung den Einsparerfolg „schwarz auf weiß“ zu sehen. Aber man reduziert ihre Bedeutung natürlich auch auf dieses Thema. Die Pharmaindustrie allerdings hatte über viele Jahre relativ stabile Margen. Damit war man auf eine (kostenorientierte) Beschaffung lange nicht so richtig angewiesen. Das funktioniert nur, solange a) die Margen auch auskömmlich blieben und b) die Versorgungsketten stabil waren. Mit den in der Frage erwähnten Komplexitätstreibern änderte sich das schlagartig. Und obwohl es natürlich – auch medial begleitet – im Healthcare-Bereich zu einigen Engpässen kam, hat die Beschaffung diese Krisen insgesamt solide bewältigt. Das hat in den Hochzeiten dieser Einschläge dann zu einer breiteren Wahrnehmung der Beschaffungsfunktion und Anerkennung geführt. Dass sich daraus jetzt eine strukturell völlig veränderte Wahrnehmung der Beschaffung ergeben hätte, kann ich leider mit einigem Abstand nicht erkennen.

Immer öfter hört man „Resilienz“ als Schlagwort im Zusammenhang mit Lieferketten. Was verstehen Sie darunter und welche Relevanz hat der Ansatz im Pharmaumfeld?

Prof. Dr. Florian C. Kleemann: Gefühlt wird der Begriff gerne verwendet, um so etwas wie „Krisenfestigkeit“ zu beschreiben. Aber Resilienz bedeutet mehr als „Festigkeit“ oder „Stabilität“, nämlich gerade die Kombination von Robustheit bzw. Widerstandsfähigkeit und Flexibilität bzw. Beweglichkeit. Denn etwas, was extrem stabil konstruiert ist, ist typischerweise wenig flexibel und sehr starr. Was umgekehrt vor allem beweglich ist, ist zu wenig stabil. Resilienz versucht, diese Aspekte zu kombinieren und Lösungen zu entwickeln, die möglichst robust und dennoch agil sind. Im Pharmaumfeld haben wir das in den letzten Jahren sicherlich bei der Corona-Impfstoffherstellung gesehen – aber auch bei den zunehmenden Material- und den folgenden Lieferengpässen. Bei ersterer konnten mit Kooperationen und flexiblen Lösungen in Kombination mit vorhandenen Finanzressourcen sehr schnell Liefer- und Produktionskapazitäten hochgefahren werden. Hier hat die Kombination aus Agilität und Robustheit also gepasst. Bei den Medikamentenengpässen sehen wir dagegen, dass die Stabilität in den Lieferketten fehlt – zum Beispiel aufgrund fehlender Redundanzen in der Lieferantenbasis. Beziehe ich nämlich bestimmte Wirkstoffe wie Cephalosporine nur noch von einem Lieferanten oder aus einer Region, trifft mich ein Ausfall dort natürlich viel mehr, als wenn ich mich durch alternative und/ oder verteilte Lieferanten absichere.

Welche Auswirkungen hat das Thema Nachhaltigkeit auf das Lieferkettenmanagement in der Pharmaindustrie?

Prof. Dr. Florian C. Kleemann: Auch wenn es Branchen gibt, die noch höhere Fremdbezugsanteile haben, liegt das Beschaffungsvolumen in der Pharmaindustrie oft bei über 50% des Umsatzes, d. h.  Wertschöpfung und Produktion finden sehr stark bei externen Partnern, also Lieferanten, statt. Während man aber die eigene Produktion selbst kontrollieren und steuern kann – und damit z. B. die Umweltauswirkungen oder die Arbeitsbedingungen –, ist das bei Lieferanten, insbesondere internationalen eine Herausforderung. Damit hat die Beschaffung hier natürlich einen entsprechenden Hebel, sofern das gewünscht oder gefordert wird.

Allerdings muss man sich auch bewusst sein, dass das Thema aktuell in Europa und Nordamerika sehr starke Aufmerksamkeit erhält. Das drückt sich auch in zunehmendem Regulierungsdruck mittels Gesetzgebung aus, in Deutschland beispielsweise durch das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. In anderen Ländern und Regionen dagegen, darunter auch wichtige Beschaffungsmärkte der Pharmaindustrie wie Indien oder China, ist der Anspruch deutlich geringer. In manchen Fällen stößt der (vermeintliche) europäische „Missionierungseifer“ sogar bei Lieferanten auf völliges Unverständnis und Ablehnung. Ob und wieviel die Beschaffung dann also tatsächlich tun kann, um nachhaltiges Wirtschaften in die Lieferkette zu tragen, hängt auch davon ab, welches Mandat und welche Ressourcen hierfür zur Verfügung stehen. Denn oft endet die Nachhaltigkeitsorientierung dort, wo sie anfängt, spürbar „Geld zu kosten“.

Wie wird sich das Thema KI auf die Beschaffung in der Pharmaindustrie auswirken?

Prof. Dr. Florian C. Kleemann: Das Thema KI und dessen Auswirkungen auf die Beschaffung sind einfach noch zu frisch, die meisten „use cases“ noch zu unausgereift, um hier belastbare Aussagen zu treffen. Die momentan so gehypte „generative KI“ mit Tools wie ChatGPT ist ja nur ein Bruchteil des Fähigkeitspotenzials. Im Gegensatz zu früheren Technologietrends würde ich aber davon ausgehen, dass nicht nur die operative Beschaffung betroffen sein wird, sondern auch taktische Aufgaben, wie z. B. die Verhandlungsvorbereitung oder sogar die Strategieentwicklung, mindestens unterstützt oder sogar automatisiert werden können. Dafür habe ich daher auch zum Abschluss eine klare Empfehlung: Schieben Sie das Thema nicht auf die lange Bank. Viel eher sollten die Einsatzmöglichkeiten immer wieder fundiert geprüft und dann selektiv umgesetzt werden.

Vielen Dank für das Gespräch!