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HNU Healthcare Management Insights #30

09.04.2025, Dialoge:

In der Interviewserie befragt Prof. Dr. Patrick Da-Cruz wechselnde Expertinnen und Experten zu aktuellen Themen aus dem Gesundheitsbereich. Diesmal sprach er mit dem Pharmaexperten Hanno Wolfram über (digitale) Gesundheitskompetenz.

Die Gesprächspartner

Prof. Dr. Patrick Da-Cruz ist Professor für Betriebswirtschaftslehre und Gesundheitsmanagement an der Fakultät Gesundheitsmanagement der Hochschule Neu-Ulm (HNU) sowie wissenschaftlicher Leiter des MBA-Programms Führung und Management im Gesundheitswesen.
Vor seiner Tätigkeit an der HNU war Herr Da-Cruz bei namhaften Strategieberatungen im Bereich Pharma / Healthcare sowie in Führungsfunktionen in Unternehmen der Gesundheitswirtschaft im In- und Ausland tätig.

Prof. Dr. Patrick Da-Cruz

Hanno Wolfram war mehr als 20 Jahre in der Pharmaindustrie tätig, u.a. im Vertrieb, als Personalleiter, Geschäftsführer Schweiz und Area Manager Europa. Auf Basis dieser Erfahrung gründete er die Beratungsagentur Innov8 und begleitet hier seit 25 Jahren Beratungs-, Veränderungs- und Implementierungsprojekte in zahlreichen Ländern. Er ist Buchautor, Coach und Dozent an der HNU. 

Hanno Wolfram

Wie würden Sie digitale Gesundheitskompetenz definieren? 

Hanno Wolfram: Am Anfang steht Gesundheitskompetenz als solche. Gesundheitskompetent zu sein bedeutet, einschlägige Informationen verstehen und für die eigene Gesundheit sachgerecht bewerten und nutzen zu können. Das Adjektiv „digital“ fügt dabei nur eine Alltagstrivialität hinzu: Nirgendwo werden mehr Informationen abgefragt als auf dem digitalen Weg. Insoweit erscheint das Adjektiv „digital“ entbehrlich.

Welche Bedeutung hat Gesundheitskompetenz für ein modernes Gesundheitsmanagement?

Hanno Wolfram: Nur wer Gesundheitskompetenzen besitzt, ist überhaupt in der Lage, für seine eigene Gesundheit sinn- und wertsteigernde Beiträge zu leisten. Dies gilt gleichermaßen für die Verhütung wie die Behandlung von Erkrankungen. Die richtigen Entscheidungen im Sinne der krankheitsverhütenden Lebensführung bedürfen erheblicher Kenntnisse und Einsichten. Fehlende Gesundheitskompetenz hingegen führt häufig zu individuellen Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen. Damit erklären sich für mich manche Skurrilitäten im Gesundheitssystem und ein erheblicher Teil der ökonomischen Ineffizienz. Wenn wir in Deutschland durchschnittlich 9,6 Mal und die Schweden nur 2,1 Mal pro Jahr einen persönlichen Arztkontakt haben, erscheint dies auch als Indikator für weithin fehlende Gesundheitskompetenz.

Ein zentrales Problem liegt heute im Wettkampf von fundiertem Wissen und emotional gebildeter Meinung im Kopf von noch nicht und bereits diagnostizierten Patienten.

Welche Herausforderungen bestehen beim Erwerb digitaler Gesundheitskompetenz?

Hanno Wolfram: Die zentrale Quelle von valider Gesundheitskompetenz ist der Arztbesuch. Leider wird die sprechende Medizin nicht ausreichend gewichtet, weder in der Ausbildung noch bei der Vergütung im Praxisalltag.1 In der Hausarztpraxis wäre es ein Leichtes, Gesundheitskompetenz zu vermitteln und zu erwerben. 

Untersuchungen zufolge werden allerdings etwa 80% der Informationen, die einen Patienten im Arztgespräch erreichen, zuhause nicht mehr erinnert, und nur etwa die Hälfte der Informationen wird von Patienten verstanden. Das Arztgespräch ist damit offensichtlich derzeit kein Platz, an dem Gesundheitskompetenz erworben wird.

Die größte Herausforderung bei der Qualitätsbeurteilung von Informationen trägt den Namen der immer noch marktführenden Suchmaschine. Seit einem Vierteljahrhundert ist „googeln“ eine praktisch überall etablierte Methode, auch um Antworten auf Gesundheitsfragen zu finden. 

Das Problem dabei ist, dass Suchergebnisse algorithmisch entstehen. Die Ergebnisse entsprechen mehr dem vom jeweiligen Nutzer erwarteten Ergebnis, weniger medizinischer Validität. Such- und Findealgorithmen folgen vorhandenen Betriebsgeheimnissen und nur wenigen nachvollziehbaren Kriterien. Auch deswegen stehen kommerzielle Werbung und schlichte Links sehr nahe zusammen. Die Bewertung von Relevanz und Validität der gefundenen Aussagen für die eigene Gesundheit ist schwer, für viele unmöglich. Es wird deswegen der nächstgelegene, vermeintlich richtige oder ins eigene Bild passende Inhalt als richtige Antwort angenommen. „Dr. Google“ ist nicht umsonst eines der buntesten Feindbilder von Heilberuflern.

Nachdem es aber unwahrscheinlich ist, dass Google sein Geschäftsmodell zu Gunsten der Gratisnutzer ändert, bleibt nur die Abkehr von Google und die Etablierung digitaler Angebote, die valide, seriöse und im besten Fall zertifizierte Antworten auf Fragen zur eigenen Gesundheit liefern. Valide Antworten gäbe es durchaus, die Quellen sind aber nur wenig bekannt. Da sie meist keinen kommerziellen Hintergrund haben, fehlt genauso häufig der erwartete Komfort für die Internet-Nutzer.

1 Wichtige Infos leichter verstehen | Stiftung Gesundheitswissen

Wie werden Barrieren beim Erwerb von Gesundheitskompetenz überwunden?

Hanno Wolfram: Eine zentrale Möglichkeit zur Erlangung von Gesundheitskompetenz liegt in der Nutzung künstlicher Intelligenz wie z.B. ChatGPT bzw. Microsoft Copilot durch Patienten. Die KI liefert bei entsprechender Frage einen klaren Volltext als Antwort. Die Option zur vertiefenden Nachfrage, Quellenangabe oder weiterer Detaillierung ist, neben den Klartext-Antworten, integraler Bestandteil von ChatGPT. Niemand muss mehr aus einer Auswahl von dargebotenen Internet-Links einen augenscheinlich richtigen Inhalt auswählen. Gesundheitskompetenter zu werden, scheint mit dem „Copiloten“ deutlich einfacher zu werden.

In aller Regel sind die Antworten mit Referenz und Herkunftsangabe versehen. Wenn also die künstliche Intelligenz für Gesundheitsthemen mehr genutzt wird, gewinnt die Gesundheitskompetenz der Nutzer unmittelbar. Irgendeine Scheu oder gar das Infragestellen von KI ist in diesem Zusammenhang nach meiner Einschätzung fehl am Platz.

Was man lediglich können muss, ist die Formulierung von Fragen in ganzen Sätzen. Dies wird als „prompting“ bezeichnet. Ein Aufruf geht deswegen an alle Heilberufler und deren Assistenzberufe, schnell eigene Erfahrungen zu machen und danach Patienten anzuleiten, es ihnen gleich zu tun.

Vielleicht werden auch Physician Assistants zukünftig ein Teil der Lösung sein? Der Alltag und die zukünftigen Einsatzgebiete in den Praxen werden es zeigen. Durch dieses neue Berufsbild entsteht Raum für deutlich mehr als die Fortschreibung bisheriger ärztlicher Gewohnheiten und deren teilweiser Delegation.

Wenn die Verbesserung der Gesundheitskompetenz von Patienten Ziel einer Praxis ist, müssten zurückgehende Kontaktzahlen von Patienten ein wertvoller Messparameter für die Erreichung dieses Ziels sein. Zurückgehende Kontakthäufigkeiten der immer gleichen Patienten führen zu mehr inhaltlicher Zeit für jeden. Mit dem Ende der Budgetierung sollte zunehmende Gesundheitskompetenz auch zu einem erhöhten Honorarvolumen für Ärzte beitragen.

Wie können digitale Technologien genutzt werden, um die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu verbessern? 

Hanno Wolfram: Unsere Gesundheitssysteme sind derzeit noch mehrheitlich auf die Behandlung von Patienten zugeschnitten. Die Prävention von Krankheiten ist in unserem Vollkasko-System deutlich unterentwickelt. 

Sogenannte DiGAs sind zertifizierte verordnungs- und erstattungsfähige digitale Angebote. Deren Kostenpflicht ist erheblich und verhindert große Verbreitungszahlen.

Für Patienten gibt es die frühere Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Erst kürzlich wurde sie als Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (BIÖG) neu ausgerichtet. Bereits die Namensgebung mit einem Umlaut lässt Zweifel an deren großer Verbreitung für die Zukunft aufkommen. https://www.bioeg.de/

https://www.netdoktor.de/ ist eine weitere und wertvolle Quelle, mit einer eigenen Erkrankung umgehen zu lernen und damit gesundheitskompetenter zu werden. 

Social Media und Patienten-Foren sind eher untaugliche Quellen für den Erwerb seriösen Wissens.

Fazit: 
Es existieren aktuell leider nur wenige und meist schwer zu findende Angebote für die Entwicklung individueller Gesundheitskompetenz. Die arzt- und apothekerinduzierte Gesundheitskompetenz steht noch nicht im Fokus der Bemühungen. Es ist noch viel Raum für Verbesserungen und gute Ideen ein komplexes Thema einfach zu gestalten.

Auf jeden Fall braucht Gesundheitskompetenz deutlich mehr als ein ständig schlechtes Gewissen im Alltag oder Reiswaffeln.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die in den Interviews dargestellten Inhalte und Aussagen spiegeln die Perspektive der Gesprächspartner wider und entsprechen nicht notwendigerweise der Position der Redaktion.